Tractatus von der
hymmlischen unndt Teufflischen Organisten=kunst

Hörspielkomposition zur Dämonologie der Orgel
Auftrag des WDR (Redaktion „Studio Akustische Kunst“). Redaktion: Markus Heuger
Ursendung: 21.Februar 2004
Sprecherinnen und Sprecher (u.a.): Mauricio Kagel, Klaus der Geiger, Else Natalie Warns, Harald Muenz, Alexandra Naumann, Karlheinz Tafel, Kornelia Bitmann, Astrid Rempel.
Toningenieur: Daniel Velasco. Textbuch, Regie und Orgel: Bernhard König

„Als die letzte Thymianwolke verzogen war, wurde applaudiert; die Lichter gingen an.“
(Aldous Huxley, 1946)

Ein Surround-Hörspiel über die Ideologie und Dämonologie der Orgel. Das Textbuch zitiert u.a. mittelalterliche Orgel-Legenden, Werbeprospekte für Stummfilmorgeln oder Referate eines Orgel-Fachkongresses der Hitler-Jugend.
Die Texte wurden mit Sprecherinnen und Sprechern aller Stimmlagen und Generationen aufgenommen, deren Stimmen zu orgelartigen „Stimm-Mixturen“ zusammengefügt werden. Die Musik entstand an mehreren Kirchen- und Kinoorgeln sowie in der Werkstatt eines Orgelbauers.

 

Programmtext

Thema und zugleich „Hauptdarstellerin“ dieser Radiokomposition ist die Orgel mit ihren höchst widersprüchlichen weltanschaulichen Konnotationen. Die Textebene schöpft aus den unterschiedlichsten Quellen: Mittelalterlichen Orgel-Legenden, Werbeprospekten für Stummfilmorgeln, Referaten eines Orgel-Fachkongresses der Hitler-Jugend, päpstlichen Erlassen zum Gebrauch der Orgel im Gottesdienst oder altarabischen Quellen über den Einsatz der Orgel als Kriegsinstrument. In der Zusammenschau dieser Texte wird die Orgel zu einer höchst schillernden Allegorie: Für gebändigte und entfesselte Technik, für dämonische Maßlosigkeit und für die göttliche Ordnung der „Sphärenharmonie“.

Alte und junge, theatralische und nüchtern berichtende Stimmen werden in der akustischen Wiedergabe der Texte zu immer neuen, orgelartigen „Stimmen-Mixturen“ zusammengefügt. Zu den Sprechern zählen unter anderem der Komponist Mauricio Kagel und Kölns bekanntester Straßenmusiker Klaus der Geiger.

(Fotos: Daniel Velasco)

Die Musik wurde an sieben Orgeln von sehr unterschiedlicher Charakteristik eingespielt. So kommen, neben mehreren Kirchenorgeln, auch zwei Kinoorgeln mit zahlreichen Stummfilm-Geräuscheffekten oder die „Intonier-Lade“ aus der Werkstatt eines Orgelbauers zum Einsatz. In der Radiokomposition verschmelzen diese höchst heterogenen Instrumente (ohne jegliche elektronische Verfremdung) zu einer Art überdimensionaler „Meta-Orgel“, die zwischen Kirche, Zirkus und Folterkammer changiert. Dabei bleibt es nicht bei einer Wiedergabe des „normalen“ Orgelklangs. Das Mikrophon kriecht gewissermaßen ins Innere des Orgelkörpers und erforscht noch den unzugänglichsten Winkel ihrer Maschinerie: Eine akustische „Organologie“, in der auch die menschliche Stimme zu einem von vielen Orgelregistern wird.

Textbuch

Aus dem Textbuch: Von einer Katzenorgel

Jetzt noch nicht lang ist zu Rom ein solch Instrument einem Fürsten, seine Melancholie zu vertreiben, gemacht worden: Alle lebendige Katzen von unterschiedlicher Größe, soviel er derselben hat bekommen können, hat er genommen und in einen Kasten dergestalt eingeschlossen, dass die Schwänz durch die Löcher heraus sehend in gewisse Kanäl sind eingeteilt gewesen. Über diese Kanäl mit den Katzenschwänz hat er gesetzt Palmulas mit spitzigen Stacheln. Die Katzen aber hat er nach ihrer unterschiedenen Größe tonsweise also angeordnet, dass auf einen jeglichen Schwanz grad ein Palmula mit dem Stachel kommen ist. Nach dem nun das Instrument zur Lustierung deß Fürsten zugerichtet, hat er dasselbe in einen bequemen Ort gestellt. Dann in dem der Organist mit den Fingern die palmulas niedergedruckt, haben diese mit ihren spitzigen Stacheln die Katzenschwänz dermassen gestochen, daß sie gantz toll und unsinnig mit einer erbärmlichen Stimm bald einen tiefen, bald einen hohen Sonum von sich geben und ein solche Katzen=harmony verursachet, daß es die Zuhörer zu lauterm Lachen bewogen, ja die Mäuß selbsten zum Tantzen hatte bewegen können.

(Athanasius Kircher, Musurgia Universalis)

Quellenverzeichnis

Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock, Laaber 1984
Karl Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, Stuttgart 1995
Heimito von Doderer, Die Merowinger oder Die totale Familie, München 1962
Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Orgel und Ideologie, Murrhardt 1984
Willibald Gurlitt (Hrsg.): Bericht über die Freiburger Tagung für deutsche Orgelkunst 1926. Kassel 1973
Reinhold Hammerstein, Macht und Klang. Tönende Automaten als Realität und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt. Bern 1986.
Dagmar Hoffmann-Axthelm: Die Musik des 12. und 13. Jahrhunderts - Musikleben und Musikanschauung. In: Hartmut Möller (Hg.), Die Musik des Mittelalters, Laaber 1991
Aldous Huxley, Brave New World, New York 1946
Winfried Kurzschenkel: Die theologische Bestimmung der Musik. Neue Beiträge zur Deutung und Wertung des Musizierens im christlichen Leben, Trier 1971
Wolfgang Laade, Musik und Musiker in Märchen, Sagen und Anekdoten der Völker Europas
Nikos Maliaras: Die Orgel im byzantinischen Hofzeremoniell des 9. und 10. Jahrhunderts. München 1991
Marin Mersenne: Harmonie Universelle, Paris 1636 (Faksimile-Nachdruck 1963), Bd. III
Josef Müller-Blattau (Hrsg.): Bericht über die zweite Freiburger Tagung für Deutsche Orgelkunst 1938, Kassel 1939
Kurt Reinhard: Chinesische Musik, Eisenach/Kassel, 1956
Revue de l'Exposition universelle de 1889 (=Bericht von der Weltausstellung 1889). F.G. Dumas, L. de Fourcaud, Paris, Ludovic Baschet, 1889, Bd. I
Ernst Rosenbohm: Kölnisch Wasser. Ein Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte, Berlin 1951
L.C. Swanson: Steamboat Calliopes, Moline/Illinois, 1983
Georg Philipp Telemann: Beschreibung der Augen-Orgel oder des Augen-Clavicimbels. Nachdruck in: Eitelfriedrich Tom (Hrsg.), Telemanns Beschreibung einer Augen-Orgel (1739), Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts, Heft 18, Blankenburg 1982
Jules Verne: Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer

 

 

Vollständiges Textbuch als pdf-Download

 

Besetzung

Sprecherinnen und Sprecher:

Kornelia Bittmann, Sigrid Bode, Davide Brizzi, Burkhart Demberg, Susanne Dobrusskin, Klaus der Geiger, Nina Hassler, Nele Hippe-Davis, Mauricio Kagel, Horst Mendroch, Harald Muenz, Alexandra Naumann, Astrid Rempel, Bernold Rix, Timon Schleheck, Karl-Heinz Tafel, Else Natalie Warns

Die Musik wurde eingespielt an folgenden Orgeln:

Compton-Kinoorgel, Thomas Richter (Privatsammler), Neu-Isenburg
Förster & Nicolaus-Orgel, evangelische Kirche Dortelweil
Intonierlade der Firma Orgelbau Klais, Bonn
Schuke-Orgel, Dreikönigskirche, Frankfurt/Main
Walcker-Orgel, St. Peter, Sinzig
Wegscheider-Orgel, Erzengel-Michael-Kirche, Köln-Michaelshoven
Wurlitzer-Kinoorgel, Deutsches Filmmuseum, Frankfurt/Main

Besonderen Dank den Orgelbaufirmen und Orgelbesitzern sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der beteiligten Kirchengemeinden und Institutionen für ihre tatkräftige Unterstützung!

Technik WDR:

Digitalschnitt: Werner Jäger, Kerstin Grimm, Gabriele Neugroda
Toningenieure Ü-Wagen: Georg Litzinger, Sebastian Roth
Tonassistenten: Harald Oberhäuser, Hans-Jürgen Fechner
Besetzungsbüro: Ulrich Korn

Recherche und Beratung Textbuch: Florian Nelle
Orgelbautechnische Beratung: Reiner Janke (Orgelbau Späth, Freiburg)
Beratung Kinoorgeln: Sven Wortmann
Spezial-Intonationen: Heinz-Günther Habbig (Orgelbau Klais)

Redakteur: Markus Heuger

Toningenieur: Daniel Velasco

Textbuch, Komposition, Regie und Orgel: Bernhard König

Produktion: WDR Köln 2003
Redaktion: Studio Akustische Kunst