hg. von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh. SCHOTT MUSIC GmbH
Leseprobe
Es sind vielbeschäftigte Menschen mit vollen Terminkalendern, mit denen wir es in unserem Kölner Experimentalchor zu tun haben. Der eine kann nur punktuell zu unseren Proben erscheinen, weil er so viel auf Reisen ist, die andere berichtet stolz, dass sie soeben begonnen hat, Alphorn zu lernen. Ganz anders im Altenheim: Wer hier lebt, hat immer Zeit. Die Höhepunkte des Tages bestehen in der morgendlichen Bingo-Runde und in der Verlesung des Speiseplans fürs Mittagessen. Der Reichtum liegt in der Vergangenheit – und hat häufig mit Musik zu tun.
Der achtzigjährige Herr R. hat als Jugendlicher Geige gespielt. Nach dem frühen Tod seiner Mutter zog er mit seinem Vater auf den Bauernhof von dessen neuer Frau. Diese verleidete ihm systematisch das Geigenspiel, indem sie erklärte, ein solches Instrument habe auf einem Hof nichts verloren. Irgendwann ergriff der junge R. vor Wut seine Geige und zertrümmerte sie, indem er sie mit voller Wucht auf den Küchentisch schlug. Seither sind über sechs Jahrzehnte vergangen. Im Rahmen meiner Besuche habe ich mehrfach versucht, Herrn R. zum Geigenspielen zu überreden – vergeblich. Anders sieht die Sache aus, als eine junge Geigenstudentin die Überzeugungsarbeit übernimmt: Herr R. lässt sich bezirzen, nimmt zum ersten Mal seit sechseinhalb Jahrzehnten wieder eine Geige in die Hand, spielt ein paar Töne – und hat sichtlich Spaß daran.
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Zurück nach Köln. Für unseren Experimentalchor hat sich eine erste Auftrittsgelegenheit ergeben, eine „Politische Nachtmusik“ im Rahmen des Evangelischen Kirchentags. Wir bereiten ein Stück für Nachrichtensprecherin und improvisierenden Chor vor. Christiane Wedel, eine professionelle WDR-Sprecherin, liest tagesaktuelle Nachrichten, der Chor reagiert darauf mit zuvor festgelegten und eingeübten Improvisationsmodellen: Gesungene Echos von Politikernamen und anderen Schlüsselbegriffen zum Beispiel, die – in Kombination mit den nüchtern vorgetragenen Nachrichtentexten – fast zwangsläufig eine gewisse Komik entwickeln. Am Tag der ersten Probe für dieses Stück handelt eine aktuelle Meldung von seismographischen Messungen. Wir picken uns den Begriff „Erdbebenmessstation“ heraus und machen seine Silben und Buchstaben zum Ausgangsmaterial für verschiedene Improvisationsspiele.
Vierzehn Tage später hat das Wort „Erdbeben“ eine völlig neue Bedeutung erhalten. Die japanische Ostküste ist vor wenigen Tagen von der größten Katastrophe der Nachkriegszeit heimgesucht worden. Niemandem von uns steht der Sinn nach irgendwelchen satirisch angehauchten Nachrichten-Spielereien. Stattdessen legt sich auf unseren Vorschlag hin jeder Chorist einen kurzen Satz zurecht, mit dem er seine ureigensten Gedanken und Gefühle zu den Geschehnissen in Japan ausdrückt. Anschließend improvisieren wir, auf Grundlage weniger einfacher Regeln, eine etwa zehnminütige Gedenkmusik. Viel Stille, sparsame Klavierklänge, sachlich vorgetragene Nachrichten aus Fukushima und eine Chorpartie, in der sich die subjektiven Gedanken, Sorgen und Fürbitten der Choristen zu vielstimmigen Akkorden mischen. „Objektiv“ betrachtet sicher nicht viel mehr als ein Ausdruck kollektiver Hilflosigkeit – für uns selbst aber eine bewegende Erfahrung, die den Chor weiter zusammenwachsen lässt. Ein Chor-Ehepaar kündigt an, befreundeten Chorsängern aus Tokio noch am gleichen Abend per Mail von unserem musikalischen Gedenken berichten zu wollen.