Konzert als Ernstfall (2013)

Musikhören ohne Erinnern: Mit Demenzkranken im Konzertsaal

Abschlussbericht zu einer "musikgeragogischen Versuchsreihe" im Rahmen des Modellprojektes „Auf Flügeln der Musik“ (Konzertprogramme für Menschen mit Demenz). Im Auftrag des IBK-KUBIA (Kompetenzzentrum für Kultur und Bildung im Alter) Remscheid. Co-Autoren: Käthe Krokenberger, Tim Pförtner und Klaus Kusserow

2013 wurde ich vom Remscheider Kompetenzzentrum KUBIA beauftragt, im Rahmen eines größeren Modellprojektes ein besonderes Konzertformat für Demenzkranke zu entwickeln. Diese Aufgabenstellung und Zielsetzung löste aus verschiedenen Gründen große Skepsis bei mir aus.

Anstatt ein solches neues Format zu entwickeln, stellte ich ein kleines Team von stilistisch vielseitigen Musikern zusammen und konzipierte mit ihnen eine Art "Versuchsreihe". Unser Ziel: Wir wollten eine Gruppe von dementiell erkrankten Heimbewohnern mit ganz unterschiedlichen Konzertsituationen konfrontieren und zugleich ihre Reaktionen auf die verschiedenen Formate und Situationen beobachten.

Ohne dass wir dies geplant hätten, verwandelte sich unsere Studie über das Verhalten von Demenzkranken am Ende in etwas völlig anderes: Eine Studie über das Verhalten der "normalen" Konzertbesuchern gegenüber irritiernd abweichendem Verhalten.

 

Leseprobe

In der Frühzeit des öffentlichen Konzertes hatte die „Eroberung“ und Aneignung adliger Privilegien und aristokratischen Verhaltens durch ein bürgerliches Publikum eine ausgeprägt emanzipatorische und aufklärerische Dimension.
In unserem heutigen Konzertbetrieb ist dieser sozialutopische Aspekt weitgehend verlorengegangen gegangen. Der „Ernstfall“ eines öffentlichen Konzertbesuchs mit Demenzkranken (ähnliches gilt übrigens auch für Konzertbesuche mit geistig behinderten Musikhörern) gibt dem Konzertritual ein Stück seiner einstigen utopischen und aufklärerischen Bedeutung zurück – wenn auch unter entgegengesetzten Vorzeichen: Anders als vor 250 Jahren lautet die utopische Frage heute nicht mehr: „Wieviel Stille, Selbstdisziplin und Affektdämpfung können wir aufbringen? Können wir uns so im Zaum halten, uns so kultiviert verhalten wie ein Adliger?“. Stattdessen wäre in einer alternden Gesellschaft zu fragen: „Wie viel Selbstdisziplin und Affektdämpfung darf im Konzertsaal preisgegeben werden? Gelingt es uns als nicht-demente Mitmenschen, als Sitznachbar und Sitznachbarin, als Dirigentin und Musiker, unser tief verinnerlichtes aristokratisches Gebahren so weit abzustreifen, dass wir Normabweichungen im Konzertsaal akzeptieren können?“. Und, eng mit dieser Frage verwandt: „Sind wir bereit, dieser Krankheit ins Gesicht zu sehen?“.

Vergleicht man die statistischen Zahlen zum Durchschnittsalter regelmäßiger Konzertbesucher mit denen zur Entwicklung der Demenz in Deutschland, dann ergibt sich: Die Hälfte der Frauen und ein Drittel der Männer, die heute ein klassisches Konzert besuchen, werden voraussichtlich an Demenz erkranken. Vor diesem Hintergrund erfüllen öffentliche Konzertbesuche mit Demenzkranken nicht nur einen individuellen Nutzen für die persönliche Lebensqualität des einzelnen Betroffenen, sondern tatsächlich auch eine aufklärerische Funktion.

In einem Essay zum gesellschaftlichen Umgang mit Demenz forderte der Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer kürzlich „eine andere Perspektive“: Statt sie primär als medizinische Katastrophe, gesundheitspolitisches Übel oder ökonomische Wachstumsbranche zu betrachten, solle sie als Teil des Lebens und unserer Gesellschaft verstanden werden: „Die Kampf- und Kriegsmetaphern, die im Zusammenhang mit Demenz häufig gebraucht werden, versperren den Blick darauf, dass die Demenz ein Aspekt und damit ein Teil dieser Gesellschaft ist und dass es deshalb darum geht, die Menschen mit Demenz gastfreundlich aufzunehmen“.

„In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“, fragte die Aktion Mensch in einer großangelegten Kampagne. Die utopische Antwort eines Musikers könnte lauten: „In einer Gesellschaft, in der Demenzkranke gemeinsam mit dem restlichen Publikum öffentlich Musik genießen können“.

Der gesamte Text als pdf-Download.

Das Projekt Auf Flügeln der Musik – Konzertprogramme für Menschen mit Demenz