Erschienen in Musica sacra 2014 / 01 (Zeitschrift für katholische Kirchenmusik), Themenheft "Zukunft"
Eine Geschichte der „Zukunft des Konzertes“ hat meines Wissens bislang noch niemand geschrieben. Es dürfte wohl ebenso erhellend wie ernüchternd sein, einmal systematisch all jene Untergangsszenarien und verfrühten Nachrufe, Erfolgsprophezeiungen und Patentrezepte zu vergleichen, die diese Kulturform seit jeher begleiten. Ernüchternd wäre eine solche Gesamtschau vor allem deshalb, weil sich künftige Geschmackspräferenzen und Trends ebensowenig vorhersagen lassen wie die künftige Fortentwicklung künstlerisch-musikalischer Ästhetik, weswegen bei derartigen Weissagungen jegliche (Selbst-)Gewissheit unangebracht ist.
Trotz dieser begrenzten Aussagekraft ästhetischer und kulturpolitischer Voraussagen nimmt die „Zukunft“ in den entsprechenden Debatten der letzten zwei Jahrzehnte einen besonders prominenten Platz ein: Das „Publikum von morgen“ ist zu einer entscheidenden Größe geworden, an der viele Veranstalter grundlegende programmatische und dramaturgische Entscheidungen ausrichten. Dabei wird von zwei wichtigen Grundannahmen ausgegangen: Das Publikum von morgen wird alt sein – im Durchschnitt sechzig Jahre und älter – und es wird sich aus einer medial geprägten und multikulturellen Gesellschaft rekrutieren müssen, für die klassische Musik mehrheitlich nicht mehr zum selbstverständlichen kulturellen Horizont zählt.
Im Unterschied zu ästhetischen und geschmacklichen Prognosen lassen sich diese beiden Grundannahmen durch Umfragen und demographische Kurven solide begründen. Viele neue Musikvermittlungsstrategien und Sonderformate (moderierte Kinder- und Familienkonzerte, schulische Educationprojekte, neue Ausbildungsangebote und Förderprogramme) sind deshalb ganz ausdrücklich mit dem Ziel ins Leben gerufen worden, dieser absehbaren Entwicklung entgegenzuwirken: Das „überalterte“ Publikum soll verjüngt, der „kulturferne“ Nachwuchs an die Konzertkultur herangeführt werden.
Ausgehend von diesen Zielsetzungen hat der Konzertbetrieb in den letzten anderthalb Jahrzehnten eine enorme Verlebendigung erlebt. Vergleicht man die heutige Selbstdarstellung und Programmpolitik klassischer und zeitgenössischer Konzertveranstalter und Ensembles mit jener aus vergangenen Jahrzehnten, dann wird man mit Freude eine ganz erhebliche Auflockerung und Öffnung konstatieren können, die den einstigen Vorwurf einer hermetischen Elfenbeinturm-Mentatlität tatsächlich als überholt erscheinen lässt. Auch dies übrigens ein weiteres, schönes Beispiel für die geringe Prognostizierbarkeit kultureller Entwicklungen: Die Begriffe „Konzertpädagogik“ und „Musikvermittlung“, die heute in aller Munde sind, tauchten noch 1999 im Sachteil-Register der größten deutschsprachigen Musik-Enzyklopädie kein einziges Mal auf. Sie waren damals zwar unter Fachleuten durchaus geläufig, galten der Musikwissenschaft aber offenbar als gänzlich irrelevant.
„Verjüngung“ und „Hinführung“ – eine Investion in die Zukunft?
Schulbesuche von Musikern, Mitmach-Workshops in Konzerthäusern: All das ist also zweifellos ein großer Gewinn. Doch wie verhält es sich mit der „Zukunftstauglichkeit“ dieser Entwicklung? Wird sich das Ziel, den absehbaren demographischen Entwicklungen gegenzusteuern, auf diese Weise tatsächlich erreichen lassen?
Das Kölner Büro für Konzertpädagogik, dem auch der Autor dieses Artikels angehört, zählt in Deutschland zu den Pionieren der Musikvermittlung. Seit Mitte der neunziger Jahre haben wir Kinder und Jugendliche in den unterschiedlichsten Workshop- und Konzertformaten mit klassischer und Neuer Musik konfrontiert. 2011 haben wir eine qualitative Langzeit-Evaluation unserer eigenen Arbeit vorgenommen, für die wir unter anderem auch die mittlerweile erwachsenen Teilnehmer unserer ersten, frühen Projekte befragen ließen. Das Ergebnis: Sämtliche befragten Mitwirkenden maßen den besagten Musikprojekten einen hohen Eigenwert bei. Häufig hatten sich einzelne Erfolgserlebnisse oder atmosphärische Eindrücke als positives "Ausnahmeerlebnis" fest in der Erinnerung verankert.
Doch trotz dieser positiven Bewertung ließ sich kaum nachhaltige Identifikation oder gar Publikumsbindung erkennen: Nicht ein einziger Teilnehmer der Befragung gab an, durch die Teilnahme an einem einzelnen, zeitlich begrenzten konzertpädagogischen Projekt zu späteren Konzertbesuchen animiert worden zu sein. Bleibendes Interesse an klassischer oder Neuer Musik ließ sich nur dort beobachten, wo die Schülerinnen und Schüler kontinuierlich über einen langen Zeitraum mit ihr in Kontakt kamen – sei es durch eine mehrjährige schulische Musik-AG, durch außerschulischen Musikunterricht oder durch eine zusätzliche, positiv-unterstützende Resonanz im familiären und privaten Umfeld.
Enttäuschend ist dieses Ergebnis nur auf den ersten Blick – eher bestätigte es unsere eigenen, längst gehegten Erwartungen. Die geringe rekrutierende Wirkung konzertpädagogischer Einzelmaßnahmen ist in unserer Branche ein offenes Geheimnis: Ich persönlich kenne keinen professionellen Musikvermittler, der den Wert seiner eigenen Tätigkeit ernsthaft an messbaren Quantitäten „erschlossener Konzertbesucher“ festmachen würde. Den Akteuren selbst geht es schon lange nicht mehr um das „Publikum von morgen“, sondern um die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen von heute.
Eingenwert partizipativer Formate
Wer Kompositionsworkshops, Mitmachkonzerte, moderierte Probenbesuche und ähnliche „Education-Formate“ als bloße Rekrutierungs- und PR-Instrumente betrachtet, übersieht dabei zweierlei. Zum einen verbirgt sich hinter der Ausgangsmotivation einer „Verjüngung“ als „Investion in die Zukunft“ die Gefahr einer doppelten Abwertung: Die der Alten als Vorboten einer negativen und besorgniserregenden Entwicklung – und die der Jungen als umworbene Hoffnungsträger, deren aufwändige Hege und Pflege sich aber erst dann voll gelohnt haben wird, wenn aus ihnen eines Tages ein treues und zahlendes Stammpublikum geworden sein wird. Die demographisch naheliegende Prognose wird also nicht als positive Herausforderung betrachtet, sondern in erster Linie als ein zu bekämpfendes Übel.
Zum zweiten verstellt die Fixierung auf eine erhoffte „Heranführung“ und „Verjüngung“ des Publikums allzu leicht den Blick auf den erheblichen Eigenwert dieser neuen Formate. Dass unsere Konzertkultur in den letzten Jahren offener und dialogischer geworden ist, ist bereits im Hier und Jetzt wertvoll und bedarf zur Rechtfertigung keiner düsteren Zukunftsprognosen. In unserer kulturell bunten Gesellschaft vermögen partizipative Formate häufig sehr viel besser und punktgenauer als das herkömmliche Frontalkonzert jene Zielsetzung umzusetzen, um die es im Konzertbetrieb eigentlich im Kern gehen sollte: Intensive ästhetische Erfahrung.
„Zukunftsorientierte“ Musikvermittlung geht in der Regel stillschweigend davon aus, dass ihre Klientel kulturell formbar und beeinflussbar sei: Auf der einen Seite steht der professionelle Veranstalter, der nicht nur seine Ressourcen bereitstellt, sondern auch vorab die zu vermittelnden kulturellen Inhalte definiert – auf der anderen Seite steht ein „bedürftiges“, „ungebildetes“ oder „kulturell unterversorgtes“ Publikum, das an diese Inhalte heranzuführen ist.
Nach meiner Überzeugung – und der vieler meiner Kollegen – entfaltet sich der Wert eines prozessorientierten und partizip-vermittlerischen Handwerkszeugs jedoch erst dann in vollem Umfang, wenn man es nicht zur einseitigen „kulturellen Missionierung“ im Sinne eines Audience Development einsetzt, sondern es ganz in den Dienst einer lebendigen künstlerischen Begegnungen stellt: Einer Begegnung, die nicht auf das „Publikum von morgen“ schielt, sondern sich radikal der Gegenwart verpflichtet weiß.
Beispiele aus der Praxis
In meiner eigenen Arbeit der letzten Jahre habe ich immer wieder erleben dürfen, wie beglückend und bereichernd es für alle Beteiligten sein kann, wenn man „Musikvermittlung“ als Austausch auf Augenhöhe begreift. Wenn wir mit unserem Kölner „Experimentalchor Alte Stimmen“ maßgescheiderte Stücke und Improvisationen entwickeln, in denen die altersbedingten stimmlichen Veränderungen der über 70jährigen Sängerinnen und Sänger nicht als Defizit empfunden werden, sondern lustvoll und offensiv als ästhetische Bereicherung inszeniert werden; wenn wir in unseren „Biographischen Liederwerkstätten“ Kinder und Senioren unterschiedlichster Herkunft dazu anstiften, sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten zu erzählen und ihre Lieder vorzusingen; wenn wir im Projekt „Trimum“ der Internationalen Bachakademie Stuttgart gemeinsam mit jüdischen, christlichen und muslimischen Theologen, Komponisten, Religionspädagogen und Musiker nach einer „Musik des interreligiösen Trialogs“ suchen – dann geht es bei alledem nicht um das Füllen künftiger Konzertsäle. Sondern es geht – neben dem künstlerischen Selbstzweck – primär darum, positive Erlebnisräume zu schaffen, in denen sich verschiedene Generationen, Kulturen und Musikgeschmäcker begegnen können: Vermittelung zwischen den Kulturen statt hin zu „der“ Kultur.
Welche Auswirkungen diese dialogische Arbeitsweise für die Zukunft haben wird? Dies zu beurteilen sollten wir getrost dem „Publikum von morgen“ überlassen.