Dazwischen (2011)

Gespräch im Rahmen der stadtklangnetz-Konferenz 2011 ("Experiment Stimme - Impulse für die künstlerisch-pädagogische Praxis"). Bürgerhaus Stollwerk Köln, 18.11.2011.

 

Im Gespräch mit Dieter Schnebel

Ankündigungstext stadtklangnetz-Konferenz

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Bernhard König und Dieter Schnebel im Gespräch
(Bildquelle: http://musiklabor-netzwerk.blogspot.de)

 

 

 

Im Gespräch mit Dieter Schnebel

Anfänge

BERNHARD KÖNIG (BK):
Herr Schnebel, in unserem heutigen Gespräch soll es unter anderem um die Schule und um die Vermittlung von Musik gehen. Ich möchte Sie zu Beginn gerne nach dem Lehrer fragen, der schuld daran ist, dass Sie nicht Flugkapitän geworden sind, sondern Komponist: Ein gewisser Herr Sibler.

DIETER SCHNEBEL (DS):
Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen, Lahr, zwischen Straßburg und Freiburg gelegen, unweit des Rheins. Meine Eltern hatten eine „Aufsteigermentalität“ und wollten, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekamen. So haben sie uns nicht auf das naturwissenschaftliche Gymnasium dieser Kleinstadt geschickt, sondern auf das Altsprachliche. Ich bin also mit Latein und Griechisch aufgewachsen.
Zu dieser Erziehung gehörte dann auch Klavierunterricht. Wie das halt war in der Nazizeit: Man spielte Märsche, Operettenmusik und Kriegslieder – das Englandlied, das Frankreichlied (ein Polenlied gab es, glaube ich, nicht). Ich fand das eigentlich fad. Als der Klavierlehrer zum Krieg eingezogen wurde, hat er uns weitervermittelt an seine Freundin. Die saß immer an einem runden Tisch, hat Zigaretten geraucht und uns spielen lassen.
Aber zwei Mitschüler hatten Klavierunterricht bei einem anderen Lehrer und sie erzählten, sie würden Bach und Mozart spielen. Allzuviel wusste ich von diesen Komponisten nicht, aber ich bin meinen Eltern solange in den Ohren gelegen, bis auch ich Unterricht bei diesem Herrn Sibler bekam. Ein alter würdiger Herr mit Vollbart und sehr gütigen Augen, der selbst Klavier studiert hatte. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, die aber in der Inflationszeit alles verloren hat. So hat er sich als Klavierlehrer durchgebracht. Kam einmal in der Woche von Freiburg in die Kleinstadt gefahren und hatte dort fünf, sechs Schüler. Das erste was er uns sagte: „Ich unterrichte nur klassische Musik.“ Schon nach wenigen Unterrichtsstunden ging es zu den kleinen Präludien von Bach und mir hat das Klavierspielen plötzlich Freude gemacht. Ich habe viel geübt, mit entsprechendem Erfolg. Nach einem Jahr konnte ich schon die leichte Klaviersonate op. 49 von Beethoven spielen.

BK:
Sie haben dann auch selber in diesem Stil komponiert...

DS:
... ja, diese Musik hat mich angeregt, selbst so etwas zu schreiben. Ich habe eine Klaviersonate a là Beethoven geschrieben. Ich war schüchtern und habe sie irgendwo hingelegt, so dass der Klavierlehrer es sehen musste. Er hat es sich dann auch angeschaut und fand das doch recht begabt.
Er hat mich ermuntert, weiterzumachen und so habe ich mich in dieser Kriegszeit quasi durch die Musikgeschichte durchkomponiert, bis ich dann bei Kriegsende bei Bruckner und Wagner angelangt war.

BK:
Ich möchte Ihnen auch eine kleine Geschichte erzählen. Als ich selbst ungefähr in diesem Alter war, da waren meine musikalischen Jugendhelden nicht Bruckner, Wagner, Beethoven, sondern eher Miles Davis und Chick Corea. Bis ich eine junge Flötistin bei „Jugend musiziert“ begleitet habe, deren Lehrerin mir zum Dank eine gebrauchte (allerdings nicht sehr oft gebrauchte) Schallplatte schenkte, mit der sie sichtlich nichts anfangen konnte. Da war dreißig Minuten lang nur Atmen drauf. So etwas Verrücktes hatte ich noch nie gehört, ich fand das total abgefahren und als ich die Platte abspielte, kamen meine Eltern ganz besorgt in mein Zimmer, was ich denn da treibe. Die Platte stammte von einem gewissen Herrn Schnebel und etwas später stieß ich dann in der Stadtbücherei auf das Buch „Denkbare Musik“. Ich glaube, das waren für mich die erste Impulse, Komponist zu werden.
Ich habe dann in meinem Studium viele Gleichaltrige kennen gelernt, denen es genauso ging: Dass ihre erste intensivere Auseinandersetzung mit der Neuen Musik dieses Buch war. Wie ist das, wenn man der „Herr Sibler“ einer ganzen Komponistengeneration ist?

DS (etwas verlegen):
Ja, das wusste ich ja nicht. (Lachen im Publikum). Die haben sich ja nicht alle bei mir gemeldet.
Ich finde das eigentlich ganz toll. Ich hätte das nie gedacht, aber es freut mich. Erfolg ist etwas Schönes. Ich hatte anfangs lange Zeit gar nicht viel Erfolg und war eigentlich auch eher angefeindet. Meine Schwiegermutter, zu der Zeit als ich in Frankfurt lebte, kannte den Direktor der Musikhochschule gut und hatte ihn angesprochen: „Hätten Sie nicht eine Professur für meinen Schwiegersohn?“ Sie bekam die Antwort: „Aber der ist doch so umstritten.“ So ist es mir lange Zeit gegangen und wenn ich jetzt so was höre, bin ich fast gerührt.

Musikschriftsteller Schnebel

BK:
Was uns damals an diesen Schriften so beeindruckt hat – ich glaube, da kann ich für viele meiner Altersgenossen sprechen – war, dass sie so voller Visionen und überhaupt nicht technokratisch waren. Natürlich waren sie analytisch, aber es hatte einen ganz anderen Tonfall, als das, was man sonst an Schrifttum zur Neuen Musik in die Finger bekam. Es gab da diese Beseeltheit und Emphase.
Sie waren in dieser Zeit Pfarrer. Scheint in diesen Texten manchmal ein bisschen der Prediger und Missionar durch?

DS:
Naja, ich habe diesen Beruf ausgeübt und mein Schreiben hat sich im Laufe der Zeit verändert. Ich habe angefangen, in den fünfziger Jahren Texte über Avantgarde-Musik zu schreiben. Einer der ersten Texte war über Karl-Heinz Stockhausen – der erste Aufsatz, der über Stockhausen erschienen ist. Nachdem ich in Darmstadt Theodor W. Adorno kennen gelernt hatte, habe ich versucht, seine etwas komplizierte Sprache nachzuahmen. Aber dann merkte ich: Das ist nicht mein Stil!
Nur das Konzentrierte, das Adorno in seinem Denken hat – das wollte ich beibehalten. Bald jedoch geriet ich unter den Einfluss eines anderen Philosophen, nämlich Ernst Bloch. Dessen Sprache ist eher knurrig, wenn nicht gar deftig. Dadurch hat sich mein Schreiben dann auch verändert.

BK:
Sie haben damals, so wie andere Ihrer Altersgenossen auch, Theologie studiert, weil Sie sich intellektuell betätigen wollten und sozusagen auch im Bereich des Denkens zur Avantgarde gehören wollten. Man kann sich das, etwas böse gesagt, heute kaum noch vorstellen: Die Theologie als bevorzugtes Studienfach der Intellektuellen. Aber es war – außer den Schriftstellern – die einzige Berufsgruppe, die in dieser Zeit die Schuld des Nationalsozialismus thematisiert hat.

DS:
Es hatte ja eine Gruppe in der Nazizeit gegeben, die hieß „Bekennende Kirche“. Das waren die Gegner der Nazis und das Haupt dieser Gruppe, Martin Niemöller, ein Berliner Pastor, ist dann auch ins KZ gewandert und hat es glücklicherweise überlebt. Diese Gruppe hat sich dann in der Nachkriegszeit, in der Adenauer-Ära, erneut formiert und war weiterhin regimekritisch. In der Pfarrerschaft gab es natürlich auch Anhänger der CDU, aber die Jungen, zu denen ich damals gehörte, waren eigentlich alle links.

BK:
Ich möchte ein kurzes Zitat von Ihnen vorlesen. Hier steht: „Einer der etwas zu sagen hat und er sagt es, steht dafür ein. Dergleichen kommt heute nicht oft vor.“ Erinnern Sie sich noch, um wen es da ging?

DS:
Nein.

BK:
Das ist aus einer Predigt, die Sie als Pfarrer über den Apostel Paulus gehalten haben und die später noch einmal abgedruckt wurde. Ich glaube, genau dies war das Gefühl, das ich als Jugendlicher bekam, als ich Ihre Texte und Ihre Essays gelesen habe – in völliger Unkenntnis der Person und zunächst auch der Musik, die dahinter steckt: Dass da wirklich einer etwas will und darum kämpft. Und dass er sich nicht scheut, abseitige Positionen einzunehmen.
Wobei sich dieser Umstand des Abseitigen ja oft überhaupt erst in dem gleichen Text erschlossen hat. Wenn Sie sich zum Beispiel verbal dafür abrackerten, dass auf einer Bühne der Neuen Musik auch gesungen werden darf – dann wusste ich als junger Leser ja gar nicht, dass das zuvor nicht sein durfte. Das habe ich erst in diesem Text erfahren.
Man kann sich das heute kaum vorstellen, dass Sie überhaupt mit einem solchen Nachdruck dafür kämpfen mussten, dass das Singen wieder in die Konzertsäle einkehrt.

Stimme und Gesang

DS:
Ja, das hing mit der Ästhetik der damaligen Zeit zusammen. Die Avantgarde-Musik, wie sie damals genannt worden ist, war ja ein Neuanfang. Ein Anfang aus dem Nichts.
Wir wollten bei Null beginnen und das hat sich so ausgewirkt, dass man von fast technologisch-abstrakten Definitionen ausging. Musik besteht aus Klangereignissen. Klangereignisse sind bestimmt in Tonhöhe, Klangfarbe, Tondauer und Lautstärke. Und das wird wiederum durch Reihen reguliert. Was uns gewissermaßen vorschwebte, ähnlich wie in der Malerei, war eine abstrakte Musik. In diese abstrakte Kunst passte die Stimme nicht richtig hinein.

(Bestätigendes Raunen im Publikum)

BK:
Offenbar hilft diese schöne Erklärung vielen von uns, ein ästhetisches Tabu zu verstehen, das für uns Jüngere doch sehr rätselhaft ist.
Wenn die Stimme nicht in dieses konstruktivistische Denken hineinpasste, hat das also damals nicht etwa dazu geführt, dass man gesagt hat „vielleicht ist dann ja das System verkehrt“...?

DS:
Es gab damals erbitterte Richtungskämpfe. Luigi Nono hat gleich von Anfang an avantgardistische Musik mit Stimme gemacht. Das war für uns schon fast ein Sakrileg. Er hat sich dann immer mehr von den Avantgarde-Positionen zurückgezogen, zumal er gläubiger Kommunist war und auch in seiner Musik den Kommunismus predigen wollte.
Andere, zu denen damals auch ich selbst gehörte, haben das Material der Stimme in seine Elemente zerlegt. Haben nicht mehr Texte vertont, sondern haben die Texte in ihre Bestandteile zerlegt, in die Laute und Silben und das dann neu zusammengesetzt. In einem meiner ersten stimmlichen Stücke hatte ich einen hebräischen Bibeltext, den ich in seine Laute zerlegt und dann neu zusammengesetzt habe. Beim Komponieren habe ich gemerkt, dass ich diese Laute nicht unbedingt wieder hebräisch zusammensetzen muss. Ich kann auch andere Sprachen nehmen, zunächst Griechisch, dann Latein. Das sind alles noch biblische Sprachen. Dann habe ich auch die heutigen europäischen Sprachen mit einbezogen.
Es gibt eine Stelle, die ist sogar etwas witzig. Dieser hebräische Text handelt davon, dass Gott uns in unserem Leben begleitet. Damals, als ich das Stück komponiert habe, haben die Russen gerade ihren ersten Satelliten ins All geschickt und der hieß Sputnik. Und „Sputnik“ heißt „Begleiter“. Es gibt also eine Stelle, in der ich amerikanisch und russisch gemischt habe: Gott your Sputnik. Das war sogar eine verständliche Stelle, in einem sonst weitgehenden unverständlichen Stück.

BK:
Es gab dann Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre ein Festival für zeitgenössische Kirchenmusik, wo die etwas biederen geistlichen Neukompositionen von sehr ehrenwerten Kantoren aufgeführt wurden. Lauter Choräle und Fugen – und dazwischen tauchte dann Clytus Gottwald mit seinem Ensemble auf und sang diese geräuschhaften Stücke von Ihnen. „Blasphemie“ war da noch eine der harmloseren Reaktionen.

DS:
Das Stück, das Clytus Gottwald aufführte, hieß „dt31,6“. Das klingt wie eine chemische Formel – was auch Absicht ist – ist aber die theologisch-wissenschaftliche Bezeichnung für das fünfte Buch Moses: „Deuteronomium, Kapitel 31, Vers 6“. Dieses Stück, das nur fünf Minuten dauert, ist von Gottwalds Schola Cantorum in halbjähriger Arbeit einstudiert worden. Es war eine wunderbare Aufführung, aber sie hat zur Entlassung von Gottwald aus dem kirchlichen Dienst geführt.

BK:
Interessant ist ja, dass das damals diese Skandale hervorgerufen hat – und vorhin haben wir hier auf unserem Kongress die junge Sängerin Natascha Nikprelevic erlebt, die alles das, worum Sie damals im Studio oder am Schreibtisch so gerungen haben, einfach aus ihrem Körper und ihrer Intuition heraus produziert. Und dann stellt diese Sängerin sich vorne hin, macht ein paar Geräusche und ein paar Gesten in Richtung Publikum – und alle wissen, was gemeint ist und machen spontan mit. Als würde jemand einen alten Rocksong anstimmen und jeder kann ihn mitsingen.
Was ist das für eine unglaubliche Entwicklung? Vom Skandal und vom konzeptionellen Ringen hin zu so einer Selbstverständlichkeit?

DS:
Nun, John Cage hat schon 1937 in einem Manifest „Ich glaube an die Zukunft der Musik“ gesagt: Die Zukunft der Musik heißt „Allklang“. Das war eigentlich die Richtung, die uns vorgegeben war: Alle Klänge in die Musik einzubeziehen. Das war für mich auch eine Richtschnur.
Es ist etwas Seltsames. Wenn mal ein Durchbruch in etwas Neues erfolgt ist, dann ist es für die Nachfolger, wie wenn durch einen Dickicht ein Weg durchgeschlagen wurde. Dann kommt man auf diesem Weg leichter voran. Nachdem die Schola Cantorum mein Stück einstudiert hatte, gab es plötzlich auch andere Chöre, die das singen konnten – und das in einer Probezeit von nur einer Woche.

BK:
Es galt zuvor jahrelang als unsingbar, wurde von einer Redaktion zur nächsten weitergereicht und alle haben gesagt, dass kann niemand aufführen...

DS:
Ja, dass ich dieses Stück überhaupt gemacht habe, ging auf eine Anregung zurück. In den fünfziger Jahren gab es einen französischen Chor, der hieß Vocal Couraud. Ein Chorleiter namens Marcel Couraud hat diesen Chor geleitet und der war unglaublich experimentell; Messiaen hat virtuose Stücke für seinen Chor komponiert. Das habe ich gekannt und wollte mindestens ebenso weit gehen. Aber Couraud, der ein schwieriger Mensch war, hat sich dann mit seinen Chorleuten zerstritten und aufgehört. Clytus Gottwald war sein Assistent gewesen und hat dann seine Arbeit in Stuttgart weitergeführt.

BK:
In einer Randnotiz von Clytus Gottwald habe ich gelesen, dass auch er für kurze Zeit einen Assistenten hatte, der das miterlebt hat und später sehr bekannt wurde: Ein gewisser Gotthilf Fischer. Der ließ sich davon aber offenbar nicht beeinflussen.

Neue Musik und Kirche

Sie haben vorhin Nono erwähnt, den gläubigen Kommunisten, der sich dadurch selbst an den Rand der Szene katapultiert hatte. Und Sie haben von einem Werktitel erzählt, der so klingt wie eine chemische Formel. Ich würde dies beides gerne zusammennehmen und nach den Schwierigkeiten eines gläubigen Protestanten und Theologen in der „Neue-Musik-Szene“ fragen. Mussten Sie ein geistliches Werk mit einem chemischen Titel tarnen, damit er sozusagen szenefähig blieb?

DS:
Ich muss sagen, dass mich Kirchenmusik damals gar nicht interessiert hat. Die Kirchenmusik der damaligen Zeit war pseudotonal und eigentlich einfältig. Meine Stücke waren experimentell, anders konnte ich es nicht machen. Aber ich war ja in der gleichen Zeit auch im Pfarrdienst tätig und hatte schon ein bisschen innere Schwierigkeiten. Ich war moderner, aufgeklärter Theologe mit Tendenz zum Atheismus und als ich in Tübingen studiert habe, wurde dort eine moderne Theologie gelehrt. Zur gleichen Zeit haben die Gläubigen mancher Gemeinden – Württemberg ist ein sehr protestantisches Land – die Pfarrer in „Gläubige“ und „Ungläubige“ eingeteilt. Ich hatte da schon meine Schwierigkeiten, aber da muss man durch.
Nur ein Beispiel: Ich hatte Religionsunterricht in der Stadt Kaiserslautern zu erteilen und habe immer wieder Diskussionsstunden veranstaltet. Da ging es dann auch um den Ost-West-Konflikt und ich habe „DDR“ gesagt. Daraufhin bekam ich eine Abmahnung vom Direktor, dass dürfe ich nicht sagen. Der Sprachgebrauch sei „sowjetisch besetzte Zone“. So war die Stimmung damals. Dann ist 1956 die Kommunistische Partei verboten wurden und die Bekennende Kirche hat dann eine neue Partei gegründet, die „Deutsche Friedensunion“ hieß. Das Gründungsmitglied war der spätere Bundespräsident Heinemann. In dieser Zeit in Kaiserslautern ist – da bin ich ziemlich sicher – mein Telefon abgehört worden, weil man wusste, dass ich dazu gehöre.
Im Übrigen, zu der Frage vorhin: Meine „Glossolalie“ ist in dieser Zeit im Radio gesendet wurden. Ich habe das absichtlich verheimlicht, aber irgendein Pfarrkollege, der mir übel wollte, hat es in der Pfarrerschaft verbreitet. Als dann der nächste Pfarrkonvent war, bin ich mit etwas Bangen hingegangen. Die Sitzung verlief völlig normal, aber nach dem Ende hat der Dekan mich zu sich gerufen und gesagt: „Kollege Schnebel, ich möchte mit Ihnen reden.“ Und dann – die Pfalz ist ein menschenfreundliches Land – haben wir uns bei einem Viertel Wein zusammengesetzt und er hat gesagt: „Kollege Schnebel, ich habe am Radio ihre Glossolalie gehört und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen“. Als ich das hörte, habe ich mir in Gedanken den Bauch gestreichelt!
Dann haben wir ein freundliches Gespräch geführt und ich hab versucht, ihm das Stück zu erklären. Am Ende hat er dann gesagt: „Wissen Sie was mich irritiert? Sie sind ein guter Pfarrer, ein guter Theologe. Ich weiß, dass Sie gut predigen und dass Sie guten Unterricht halten. Sie sind ein vernünftiger Mensch. Wie kann ein vernünftiger Mensch so etwas machen?“

BK:
Ich bin froh, dass Sie meine Frage von vorhin genau falsch herum verstanden haben. Die zielte nämlich in eine andere Richtung, aber dann wäre uns diese schöne Geschichte entgangen.
Wenn man einmal in die andere Richtung guckt: Nicht in Richtung Kirche, sondern in die damals sehr junge, avantgardistische Musiklandschaft – gab es dort auch Probleme?
Ich möchte ein Beispiel dafür nennen, was ich meine: Sie haben Martin Niemöller später, in den achtziger Jahren, eine „Dahlemer Messe“ gewidmet. Mal angenommen, Sie hätten schon damals ein Stück „Dahlemer Messe“ genannt – und eben nicht „dt mit irgendwelchen seltsamen Zahlen dahinter“. Wäre das nicht der Todesstoß für Ihre Reputation als Komponist gewesen?

DS:
Ja, ich bin ja auch als Theologe immer ein Gegner von Orthodoxie, von Rechtgläubigkeit, und es gab in den sechziger Jahren auch so eine Art „Avantgarde-Rechtgläubigkeit“. Die Musik musste irrsinnig kompliziert sein. Es musste wimmeln von Geräuschen. Irgendwann war mir das leid. Dann habe ich auch, seriell komponierend, traditionelle Klänge einbezogen. Eine Skala zwischen nicht-traditionellen Klängen und traditionellen. Alle Zwischenstufen.
Als ich da die ersten Stücke gebracht habe, hieß es dann: Der Schnebel hat die Avantgarde verraten. Das ging bis in die engsten Freundschaften hinein. War sehr bitter für mich.

BK:
Mit einem dieser Freunde habe ich mal gesprochen: Gerd Zacher hat Ihnen das auch zwanzig Jahre später noch übel genommen.

DS:
Ja? Hm. Hat er mir nie gesagt. (Gelächter im Publikum)

BK (betroffen):
Oh, das tut mir leid. Ich wollte hier niemanden outen.

DS:
Och, gemerkt habe ich es wahrscheinlich schon.

Der Lauf der Dinge

BK:
Noch einmal ganz kurz zu den Werktiteln. Sie haben oft viel Zeit und Gedanken auf diese Titel verwendet, mitunter gab es viele Varianten und hat Jahre gedauert, bis der endgültige Titel feststand. Irgendwo in einer Musikzeitschrift wurden Sie mal gefragt: „Wie kommt man eigentlich auf diese Werktitel?“ und Sie haben gesagt: „Naja wie die Jungfrau zum Kind.“ Das klang für mich beim ersten Lesen locker-flockig und bescheiden. Aber für einen Theologen ist das ja eigentlich eine recht unbescheidene Aussage: „Wie die Jungfrau zum Kind...“?!

DS:
Naja, soweit habe ich natürlich nicht gedacht.

BK:
Aber es gab doch schon eine große Emphase damals, die dann oft in einem solchen Werktitel gebündelt oder fokussiert war. Dieses große N von „Neue Musik“ – das reichte ja schon bis in den Himmel. Dieser Anspruch, den man damals hatte, dieses sehr Grundsätzliche und Transzendente – was ist daraus geworden?

DS:
Nun, die historische Entwicklung ging halt weiter. Die Anstöße der Avantgarde-Musik wurden akzeptiert. Es galt als normal. Ich weiß noch, ich war 1956 zu Gegend bei der Uraufführung von Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ in Darmstadt. Eine elektronische Komposition mit Aufnahmen von Stimme. Das hat mich total geschockt und erschreckt. Heute ist es für mich ein wunderschönes Stück Musik.
Es schleift sich auch ab. Vor ein paar Jahren ist im saarländischen Rundfunk ein Stück von Helmut Lachenmann einstudiert wurden, wo die Orchestermusiker viele ungewöhnliche Spielweisen zu realisieren haben. Helmut ist extra hingefahren und wollte den Musikern das erklären. Dann ist einer aufgestanden und hat gesagt: „ Herr Lachenmann das können wir alles.“
Ja. und so ist das heute, dass ein Orchesterstück von Lachenmann ein Erfolgsstück sein kann. Das ist mit der traditionellen Musik ebenso gegangen. Die späten Streichquartette von Beethoven, die galten als unspielbar. Es gibt ja diesen berühmten Spruch, wo der Geiger Schuppanzigh zu Beethoven gesagt hat, das könne man nicht spielen. Und Beethoven hat erwidert: „Was kümmert mich seine elende Geige, wenn der Geist mich überkommt?“

BK:
Ist das nur schön oder auch ein bisschen schade, diese allmähliche Verwandlung zum Klassiker? Wo man damals so etwas wie ein Sprengmeister war – „Avantgarde“ ist ja eigentlich ein militärischer Begriff – und jetzt, wo die Wege freigeschlagen sind, kommt soviel Fußvolk hinterher. Weckt das nicht auch ein Stück Nostalgie oder Melancholie, wenn man das so sieht?

DS:
Vielleicht ja. Aber andererseits weiß ich: Das ist der Lauf der Welt. Es geschieht notwendigerweise. Man muss nur in die bildende Kunst schauen, Die damals ganz revolutionären Bilder von Kandinsky oder von Mondrian erzielen heute Rekordpreise. Die waren auch sicher damals schon schön, man hat es nur noch nicht gesehen.

Schulmusik

BK:
Ein weiteres Betätigungsfeld, zu dem Sie anfangs gekommen sind wie „die Jungfrau zum Kind“, war die Auseinandersetzung mit der Schule als Ort für Neue Musik. Auch das war damals ein schwerer Tabubruch. Wer Adorno kannte, musste die „musikpädagogische Musik“ ablehnen.
Soweit ich weiß, war es eine Vertretungsstunde, die Sie als Religionslehrer überhaupt dazu gebracht hat, selbst Neue Musik in der Schule zu machen?

DS:
Ja, und es gab da eine ungebärdige siebte Klasse. Es war schon eigentlich unzumutbar, diese Klasse hatte vierzig Schüler, und da in der fünften Stunde noch Religion zu halten oder Musik, das war schon die Hölle. Und dann hatten sie, vielleicht um mich zu provozieren, allerlei Gegenstände da und haben einen höllischen Lärm vollführt. Ich bin zu einem von ihnen hingegangen und habe gesagt: „Zeig mir mal, was machst du damit denn?“ Er hat das voller Stolz vorgeführt und ich habe die restliche Stunde damit verbracht, was man mit solchen Gegenständen für Musik machen kann. Das hat mich dann auch zu meinen Schulmusikwerken geführt.

BK:
Und auch das empfinde ich wieder als eine verblüffende Entwicklung. Es gibt heute kaum einen Komponisten, zumindest in meiner Generation, der nicht ungefähr die Hälfte seiner Zeit in Schulen verbringt und dort seiner Arbeit nachgeht.
In den Siebzigern, als Sie dann Ihre erste eigene Komposition für die Schule geschrieben haben, gab es das nur in England. Aber hier in Deutschland gab es das überhaupt nicht, dieser Gedanke war hier ganz fremd.

DS:
Ja, im Musikunterricht hat man traditionelle Musik gemacht. In manchen Lehrplänen für die Oberstufe stand auch „Neue Musik“, also Musik des 20. Jahrhunderts. In manchen Musiklehrbüchern waren dann sogar auch schon Notenbeispiele meiner „Glossolalie“ drin. Aber das jetzt in der Schule selbst zu praktizieren – das war neu.

BK:
Die jungen Lehrer – die ersten 68er, die dann in den Schuldienst kamen – die haben über Neue Musik zwar gesprochen oder sie gehört, aber sie wären nicht auf den Gedanken gekommen. Es war sozusagen tabu, sie auch zu praktizieren.

DS:
Die 68er haben sowieso den Avantgarde-Komponisten vorgeworfen sie seien elitär. Das war ein Vorwurf, der mich hart getroffen hat. Ich wollte kein elitärer Komponist sein.

BK:
Ich meinte eher die jungen Schulmusiker, die bereits von Adorno, Stockhausen usw. geprägt waren. Da gab es ja auch ein paar. Aber gerade die wären nicht im Traum darauf gekommen Neue Musik in der Schule zu machen. Was ja inzwischen eine absolute Selbstverständlichkeit ist...

DS:
... ja, da muss es Pioniere geben. Einer dieser Pioniere war der pfälzische Musiklehrer Manfred Peters. Er hatte eine Schülerin, Silke Egeler, die war später in Berlin in meinen Kursen für experimentelle Musik, und so geht das dann plötzlich weiter.

BK:
Kurz zur Erläuterung, das werden viele nicht wissen: Silke Egeler-Wittmann ist schon als Schülerin Mitglied der Gründstädter „AG Neue Musik“ gewesen und hat darüber die Musik von Dieter Schnebel kennen gelernt. Sie hat dann bei Schnebel studiert und ist heute selbst Leiterin dieser Grünstädter AG. Die AG ist mittlerweile über vierzig Jahre alt, mit einer lückenlosen Kontinuität.

DS:
Ja, ich glaube, ein Schüler der Silke ist auch schon wieder Musiklehrer.

BK:
Das heißt, das sind jetzt schon die ersten „Enkelschüler“, die sich da betätigen.

Sichtbare Musik

Damals haben Sie sich auch für das „Sichtbare“ in ihren Essays eingesetzt. Das Sichtbare in der Musik. Auch das ist heute etwas, worauf man nicht kommen würde: Dass das überhaupt ein strittiger Punkt gewesen ist. Aber Sie haben flammende Plädoyers geschrieben, dass man im Konzertsaal auch was sehen dürfen muss und nicht nur hören soll.

DS:
Ja, eigentlich sollte man im Konzertsaal die Augen schließen. Ich habe das nie gemacht und habe dann in den sechziger Jahren ein Solo für einen Dirigenten geschrieben, das war damals auch ein Schock-Stück.
Der Anlass dazu war folgender: In dieser Zeit sind die ersten Fernsehapparate auf den Markt gekommen. Mein Schwiegervater im Schwarzwald hatte ein Gerät von der Firma Saba. Und ich kam einmal an einem Sonntag zu Besuch, zur Familie meiner Verlobten, und da lief sonntags um elf der Fernseher, mit einem gefilmten Konzert. Das war damals schon genauso wie heute: Da sah man mal eine Flötistin oder einen Cellisten oder die Hörner, und wenn ein Schlagzeuger die Becken gegeneinander schlug, kam das in Großaufnahme. Ich habe das angeschaut, ich kannte das Stück nicht. Und plötzlich, das Medium war noch anfällig, war der Ton weg. Man sah nur das Bild. Das war für mich „sichtbare Musik“. Ich konnte mir eigentlich ganz gut vorstellen, was da geschieht. Das war der Anlass für dieses Dirigentensolo.

BK:
Dieses Dirigentensolo hat dann später Mauricio Kagel verfilmt. Einer von vielen Weggefährten, wo der gemeinsame Weg zeitweise sehr eng, sehr nah war. Wo Wege dann aber auch wieder auseinander gingen, mitunter auch im Streit. Mauricio Kagel ist einer von diesen vielen Weggefährten, die heute nicht mehr leben. Stockhausen zählt dazu, Nono zählt dazu – wie ist das, wenn Weggefährten dann irgendwann diesen Weg verlassen und es werden immer weniger, die so nebeneinander weitergehen?

DS:
Ja, es sind in meinem Alter ja kaum noch welche von damals übrig. Aber es hat immer diese Richtungskämpfe gegeben. Kagel und ich, wir waren in den sechziger Jahren sehr eng. Die Freundschaft ist eigentlich aus einem ganz absurden Grund zu Ende gegangen. Künstler sind ja manchmal auch sehr paranoid. Ich habe ein Buch über Kagel geschrieben. Das war das erste Buch, was über ihn erschienen ist. Und da hatte ich am Ende ein kleines Kapitel, zwanzig Seiten, mit kritischen Anmerkungen. Das hat er mir total übel genommen. Das bedeutete das Ende der Freundschaft. Aber sollte ich ein Buch schreiben, was von A bis Z nur eine Lobeshymne ist? Das wäre auch unglaubwürdig.
Auch Stockhausen und Kagel waren zunächst Freunde. Aber wie es in der Kunst halt so zugeht – dann hat jeder seine eigene Karriere betrieben. Kagel lebte in Köln, Stockhausen lebte in Köln, Kagel wollte eigentlich genauso erfolgreich sein, wie Stockhausen – und dann war’s mit der Freundschaft zu Ende.

BK:
Würden Sie sich wünschen, dass es irgendwann so einen Stammtisch gegeben hätte, eine Skatrunde der alten Komponisten, wo man sich das nicht mehr krumm nimmt, sondern auf die alten Heldentaten zurückschaut?

DS:
Das wäre schon schön. Im Himmel oben.

BK:
Was hilft beim Altwerden mehr: Theologe zu sein oder Komponist zu sein? Oder hilft beides nicht?

DS:
Also ich habe lange Zeit in meinem Leben diese beiden Tätigkeiten quasi getrennt gehalten. Aber jetzt auf meine alten Tage versuche ich sie zu synthesieren. Ich denke theologisch und ich komponiere vielleicht auch theologisch. Allerdings in einem sehr weiten und vielleicht auch radikalen Sinn. Erst kürzlich habe ich etwas erlebt, was mich mit sehr großer Freude erfüllt hat. Vor vier Wochen bekam ich von der Universität Marburg, der ältesten Universität, die es gibt, den Dr.h.c.. Da bin ich stolz drauf und das hat mich riesig gefreut. Aber vielleicht ist das auch eine Alterserscheinung.

BK:
Vom Enfant terrible, der von seinem Vorgesetzten zur Seite genommen wird, er sei ja ein ganz vernünftiger Pfarrer, aber doch ein seltsamer Komponist – hin zu jemandem, der dann sozusagen wieder heimgeholt wird zu Mutter Kirche.

(Schweigen)

DS:
Ja. Sind wir jetzt nicht zu Ende?

BK:
Ich hatte noch auf ein Schlusswort gewartet. Aber vielleicht muss man auch nicht immer ein Schlusswort haben.

DS:
Also eines spüre ich schon: Die Musik ist ja eine Kunst des Komponierens, des Zusammenfügens. Und bei diesem Zusammenfügen gibt es ja Konsonanzen und Dissonanzen. Ich habe in letzter Zeit ein Streichquintett komponiert, das heißt „Sonanzen“. Weder Dissonanzen, noch Konsonanzen, sondern irgendwo dazwischen. Wenn mich jemand fragen würde, was interessiert Sie heutzutage am Komponieren, dann würde ich wahrscheinlich sagen: Das Dazwischen.

 

 

 

Programmtext stadtklangnetz-Konferenz 2011

In Dieter Schnebel personifizieren sich zentrale Entwicklungsphasen der Neuen Musik - von der frühen Wiederentdeckung Anton Weberns über die Blütezeit der experimentellen Avantgarde bis hin zur späten Rückkehr zu sinfonischen und oratorischen Großformen. Schnebel war aber auch ein engagierter Vorkämpfer für vieles, das heute selbstverständlich ist: Komponieren für Laien. Neue Musik für die Schule. Uraufführungen in Kirchenräumen. Theatralisch inszenierte und filmisch bebilderte Konzerte. Selbst um den schlichten Umstand, dass auf einer Neue-Musik-Bühne nicht bloß Instrumentalklänge zu hören sind, sondern auch Gesungenes und Gesprochenes, musste in den späten 50er und frühen 60er Jahren mit hohem konzeptionellen und argumentativen Aufwand gerungen werden.

Moderator Bernhard König zählt zu einer Komponistengeneration, die Schnebels "sichtbare" und "denkbare Musik" bereits als Klassiker kennen gelernt haben und die sich heute unbekümmert auf so manchem breiten Pfad bewegen dürfen, den dieser als einer der ersten für die Neue Musik gangbar gemacht hat.

 

 

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