alte stimmen: Musik im Altenheim

Projektauftrag der Addy-von-Holtzbrinck-Stiftung. In Zusammenarbeit mit dem Generationenzentrum Sonnenberg (Stuttgart), der Albschule Stuttgart-Degerloch, der Freien Evangelischen Schuel Stuttgart, dem Studiengang Elementare Musikpädagogik der Musikhochschule Stuttgart, den Neuen Vocalsolisten und "Uwaga!".

Drei Jahre lang konnte Bernhard König im Auftrag der Addy-von-Holtzbrinck-Stiftung neue Formen des Musizierens mit alten Menschen entwickeln. Dazu gehörten auch regelmäßige Ortstermine im Stuttgarter Generationenzentrum Sonnenberg. Hier versuchte Bernhard König, Konzepte zu entwickeln, die sich mit einfachen Mitteln im normalen Altenheim-Alltag realisieren lassen.
Entstanden sind dabei eine ganze Reihe von einfachen Musikspielen, Improvisationsmodellen, Gesprächsimpulsen und neuen Textierungen, die häufig an bekannte Volkslieder oder alte Schlager anknüpfen und – ausgehend vom Vertrauten – neue musikalische Erfahrungen eröffnen.

Materialien für das Singen im Altenheim

Das Projekt „Musik im Altenheim“ (2010-2012)

Das Team

Die Gastensembles

 

 

 

 

Das Projekt „Musik im Altenheim“ (2010-2012)

Vorbedingungen

Das Generationenzentrum Sonnenberg in Stuttgart-Degerloch umfasst neben dem stationären Altenheimbereich auch eine ambulanter Tages- und Kurzzeitpflege sowie 30 angeschlossene Wohnungen für ein autonomes „betreutes Wohnen“. Vor allem aber – und hieraus bezog meine Arbeit entscheidende Impulse – vereint es Seniorenheim und Kindergarten unter einem Dach.

Ein weiterer Vorteil für meine Arbeit: Das Haus war bis dahin musikalisch „unterversorgt“, verfügte über kein eigenes regelmäßiges musiktherapeutisches oder musikgeragogisches Angebot. Zugleich traf ich bei den festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf große Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft.

Eine wirklich kontinuierliche Arbeit war für mich aus Budget- und Zeitgründen nicht möglich. Stattdessen besuchte ich das Haus alle vier bis sechs Wochen an fünf aufeinanderfolgenden Tagen.

 

Volksliedsingen und biographische Interviews als „vertrauensbildende Maßnahme“

Die ersten Besuche dienten dem wechselseitigen Kennenlernen und dem Schaffen einer Vertrauensbasis.
Dank seiner ergebnisoffenen Finanzierung zeichnete sich dieses Projekt - gemessen am normalen Alltag eines Altenheims - durch eine überaus „luxuriöse“ Ausgangsbedingung aus: Sich ganz dem einzelnen Menschen und dem Thema „Musik“ widmen zu können – ohne den äußeren Druck der täglichen Pflegeroutine und ohne ein zu erfüllendes therapeutisches Pflichtpensum.
Diese Chance wurde zu Beginn vor allem genutzt, um intensive Einzeldialoge zu führen. Zentrales Thema dieser Interviews war die musikalische Sozialisation des oder der Betreffenden: „Lieblings- und Lebenslieder“, die in der eigenen Biographie verankert und mit besonderen Geschichten, Stimmungen oder Erinnerungen verknüpft sind.

Neben diesen Einzelbegegnungen wurden in der Anfangszeit vor allem offene Singrunden auf verschiedenen Stationen angeboten, die stark vom vertrauten Volkslied-Repertoire geprägt waren. Der Versuch, im Rahmen dieser Sing-Angeboten über das einschlägige Volkslieder-Repertoire hinaus auch Neues, Unbekanntes anzubieten, stieß allerdings in der Anfangszeit schnell an Grenzen und erzeugte Ablehnung.

 

Anknüpfen an bestehende Angebote

Weitergehende Gestaltungsspielräume ergaben sich erst, als ich begann, aktiv an bereits bestehende Angebote anzudocken. An die wöchentliche Gymnastikstunde etwa: Dass sie hier, im Kreis sitzend, zu körperbetonten Übungen angeleitet werden, ist den Senioren seit Jahren vertraut. Dass nun zu den Bewegungsübungen auch noch Töne, Rhythmen und Geräusche hinzukommen, sorgt für willkommene Auflockerung und wird – so lange es nicht als „Musik“ deklariert wird – problemlos akzeptiert.
Als sehr fruchtbar erweist sich auch ein regelmäßiges Format namens „Montagsspaß“, das der gezielten Begegnung zwischen Senioren und Kindern gewidmet ist. Schnell wurden die Kindergartenkinder zu wichtigen „Sub-Vermittlern“. Wann immer ich einen neuen musikalischen Impuls setzen wollte, bereitete ich die entsprechenden Spielregeln und musikalischen Fertigkeiten zunächst im Kindergarten gründlich vor, bevor ich dann im intergenerativen Rahmen auch die Senioren daran teilhaben ließ. Von nun an war die Akzeptanz, gemessen am sonstigen engen Musikgeschmack vieler Bewohner/innen, beachtlich. Schon nach wenigen Arbeitsphasen reichte das gemeinsame „Montagsspaß“-Repertoire von der gesungenen Namensrunde über verschiedene stimmliche Geräuschimprovisationen, Dirigierspiele und Nonsens-Lieder bis zum „Der-Kuckuck-und-der-Esel“-Rap mit chorischer Beatbox-Begleitung.

Musikalische Einzelarbeit

Neben den offenen Gruppenangeboten entschied ich mich bei zwei Bewohnergruppen auch für eine gezielte Einzelarbeit: Zum einen bei Bewohner/innen mit einer stark fortgeschrittenen Demenz, zum anderen bei solchen, deren Musikalität, Experimentierfreude oder intellektueller Horizont erkennbar herausstach.

Zusammen mit Patrizia Birkenberg und Bettina Wackerbarth, zwei Studentinnen des Musikhochschul-Studiengangs „Elementare Musikpädagogik“, versuchte ich mich gezielt solchen Altenheimbewohnern zu widmen, die über besonders große Aufgeschlossenheit und/oder ein ausgeprägtes musikalisches Potential verfügen. Rasch stellten sich erste Erfolge ein: Ein Bewohner, der zum ersten Mal seit 65 Jahren wieder eine Geige in die Hand nimmt. Eine blinde Bewohnerin, die sich - auf schwarzen Tasten improvisierend - wieder das Klavier "ertastet".

Doch in den folgenden Wochen und Monaten zeigte sich auch, dass einer kontinuierlichen, aufbauenden Arbeit enge Grenzen gesetzt waren. Mal waren es akute körperliche Beeinträchtigungen oder ein fortschreitender mentaler Abbau, die einem Anknüpfen an bereits Erreichtes im Wege standen – mal wurde eine mehrwöchige Zusammenarbeit abrupt beendet, weil eine Bewohnerin beschloss, das Altenheim zu verlassen und zurück in ihre Privatwohnung zu ziehen.

Anstatt weiterreichende Zielvorgaben zu definieren, versuchten wir uns deshalb in der Einzelarbeit zunehmend auf die Gegenwart, auf eine besondere Wertschätzung des jeweiligen Momentes zu konzentrieren. Als Modell diente uns dabei die Erfahrungen, die wir parallel im Stuttgarter Hospiz, dem dritten Schauplatz unserer Arbeit sammeln konnten (s.u.).

Freie Improvisation mit Demenzkranken

Erst recht im "Hier und Jetzt" angesiedelt war naturgemäß die Einzelarbeit mit Bewohner/innen, die in fortgeschrittenem Stadium dementiell erkrankt waren. Die Tatsache, dass viele Demenzkranke auch bei stark eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten und einem hochgradig reduzierten Erinnerungsvermögen über ein erstaunliches Liedergedächtnis verfügen und mitunter ganze Lieder auswendig singen können, ist schon von vielen Angehörigen, Musikgeragogen und Musiktherapeuten beschriebenen worden.

Darüber hinaus konnte aber eine zweite, erstaunliche Entdeckung gemacht werden, die es wert wäre, weiter erforscht zu werden: In einigen Fällen begegnete ich bei dementiell Erkrankten einer überdurchschnittlichen Improvisationsfähigkeit und -bereitschaft (siehe auch unten, letzter Absatz). Als vorläufige Hypothese würde ich vermuten, dass man hier einer "ursprünglichen" Form von Musikalität begegnet, über die auch nicht demenzkranke Menschen verfügen, ohne sie zu aktivieren. Diese "Ur-Musikalität" könnte bei den Demenzkranken einerseits aufgrund ihres hohen Lebensalters und ihrer musikalischen Sozialisation weiter "gereift" sein als beispielsweise bei kleinen Kindern. Andererseits könnte es sein, dass gerade aufgrund ihrer Demenz verschiedene hemmende Faktoren entfallen (zum Beispiel die Angst vor dem eigenen Unvermögen oder das Gefühl, sich zu blamieren).        

Spitzenensemble im Speisesaal

In Zusammenarbeit mit Musik der Jahrhunderte/Netzwerk Süd (Stuttgart) und mit finanzieller Förderung durch das Förderprogramm „Netzwerk Neue Musik“ der Kulturstiftung des Bundes ist es gelungen, eine zeitlich begrenzte Zusammenarbeit mit den „Neuen Vocalsolisten“ in die Wege zu leiten. So legte nun also über mehrere Monate hinweg ein Spitzenensemble der zeitgenössischen Vokalmusik zwischen Uraufführungen und CDAufnahmen in aller Welt von Zeit zu Zeit einen Zwischenstopp im Speisesaal des Generationenzentrums Sonnenberg ein, um sich dort singend, horchend und experimentierend auf das Abenteuer „Alte Stimmen“ einzulassen.

Eines der musikalischen „Highlights“: Eine fünfminütige choralartige Improvisation mit einem stark demenzkranken Bewohner, dessen Tenorstimme sich völlig mühelos in die freien Akkordfolgen der Profisänger fügt.

 

 

Das Team

 

Patrizia Birkenberg wurde 1988 in Meersburg am Bodensee geboren. Schon während ihrer Schulzeit leitete sie mehrere Tanz-, Musik-und Freizeitgruppen und spielte regelmäßig in zwei Orchestern. Von 2008 bis 2009 arbeitete sie in einem Musikprojekt in einer Favela Sao Paulos (Brasilien) als Musik- und Kunstlehrerin. Seit April 2010 studiert sie "Elementare Musikpädagogik " mit Hauptfach Geige an der Musikhochschule in Stuttgart. Außerhalb der Musik ist sie bei den "Freunden der Erziehungskunst e.V." im Bereich Entwicklungszusammenarbeit engagiert. Im Projekt "Alte Stimmen" ist sie als musikalische Assistenz und Geigenlehrerein tätig.

 

Francoise Müller ist seit 2005 staatlich anerkannte Ergotherapeutin. Nach der Ausbildung war sie in einer Rehabilitationsklinik im Schwarzwald tätig. Seit 2007 arbeitet sie im Generationenzentrum Sonnenberg. Zu ihren Tätigkeitsbereichen zählen Gymnastik, kreative Arbeiten, Gesprächsrunden, Wahrnehmungstraining und motorische Einzeltherapien.

Francoise Müller über ihre Arbeit im Altenheim: „Die Arbeit mit alten Menschen erfüllt mich sehr, da sie viel Interessantes zu erzählen haben, viel erlebt haben und sich dabei nie aufgegeben haben. Jeder Mensch für sich, hat seine Geschichte und seinen Charakter und ich darf daran teilhaben.“

 

Bettina Lüdeke wurde 1985 in Dachau geboren. Von 2006 – 2008 besuchte sie die Berufsfachschule für Musik in Krumbach mit dem Hauptfach Gesang. Anschließend absolvierte sie ihr Studium für Elementare Musikpädagogik (Zusatzfach Gesang) an der Musikhochschule Stuttgart. Währenddessen sammelte sie Erfahrungen im Unterrichten der Instrumente Blockflöte, Klavier und Geige sowie Erfahrungen in Chorleitung mit Kindern und Jugendlichen. Derzeit unterrichtet sie in Nürtingen an der Musikschule Elementare Musikpädagogik und leitet den Kinderchor der Sängerlust Kornwestheim.

 

 

 

 

Die Gastensembles

Neue Vocalsolisten

1984 als Ensemble für zeitgenössische Vokalmusik unter dem Dach von Musik der Jahrhunderte gegründet, sind die Neuen Vocalsolisten seit dem Jahr 2000 ein künstlerisch selbstständiges Kammerensemble für Stimmen. In jedem Jahr werden etwa 20 Werke von den Neuen Vocalsolisten uraufgeführt. Das Musiktheater und die interdisziplinäre Arbeit mit Elektronik, Video, bildender Kunst und Literatur gehören ebenso zum Ensemblekonzept wie die Collage von kontrastierenden Elementen Alter und Neuer Musik.

Seit jeher steht im Zentrum ihres Interesses die Recherche: das Erforschen neuer Klänge, neuer Stimmtechniken und vokaler Artikulationsformen, wobei dem Dialog mit Komponisten eine große Bedeutung zukommt. Im Rahmen des Projektes "alte stimmen" begeben sich die Vocalsolisten nun erstmals auch auf das für sie bislang unerforschte Terrain einer unmittelbaren, interaktiven und ergebnisoffenen Zusammenarbeit mit musikalischen Laien - in diesem Fall mit den Bewohnern eines Altenheims.

Guillermo Anzorena (Bariton) studierte Gesang an der Hochschule für Musik der Universität National von Cuyo (Argentinien). Seit 1994 lebt er in Karlsruhe, seit März 2000 ist er Mitglied der Neuen Vocalsolisten Stuttgart. CD- und Rundfunkaufnahmen, u. a. mit dem SWR und der Jungen Oper Stuttgart begleiten seine solistische Laufbahn, zahlreiche Konzerttourneen des Ensembles führen ihn durch das In- und Ausland. Seit Oktober 2000 ist er als Dozent für Gesang an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen tätig.

Der Bass Andreas Fischer studierte Schulmusik und Gesang in Stuttgart und Wien. Schon während des Studiums wurde das Interesse an zeitgenössischer Musik zum zentralen Aspekt seiner Arbeit. Als freischaffender Sänger, Ensembleleiter und als der Bass der Neuen Vocalsolisten Stuttgart wirkte er bei ungezählten Uraufführungen, CD – und Rundfunkproduktionen mit. Dabei ist ihm der enge und produktive Kontakt zu den Komponisten besonders wichtig.

 

Susanne Leitz-Lorey, lyrischer Sopran, studierte an der Musikhochschule Stuttgart. Nach Abschluss des Gesangsstudiums 1988 besuchte sie die Opernschule und legte 1991 die Bühnenreife ab. In Zusammenarbeit mit Helmuth Rilling, Ingo Metzmacher, Hans Zender, Manfred Schreier und anderen ist sie als Konzertsängerin vielfältig künstlerisch tätig. Ihr Repertoire umfasst sämtliche große Oratorienpartien. Seit 1991 ist sie Mitglied der Neuen Vocalsolisten Stuttgart.

 

Martin Nagy (Tenor) erhielt nach dem Studium der Schulmusik an der Stuttgarter Musikhochschule mit den Hauptfächern Violine und Gesang, der Liedklasse und des Opernfachs zunächst ein Engagement an der Oper Annaberg-Buchholz. Seit 1993 ist er freischaffender Konzert- und Opernsänger. Zahlreiche Rundfunk- und CD-Produktionen dokumentieren seinen Weg als Solist. Ein Schwerpunkt und zugleich belebender Kontrapunkt zu seiner Tätigkeit als Oratoriensänger ist heute die Arbeit mit den Neuen Vocalsolisten.

Sarah Maria Sun wurde 1978 geboren und erhielt ab dem zehnten Lebensjahr Gesangsunterricht. Sie studierte später Oper und Lied an den Musikhochschulen in Köln und Stuttgart und wurde ausserdem von Darinka Segota unterrichtet. Sie gilt maßgeblich als Spezialistin für Zeitgenössische Musik und erarbeitete sich im Laufe der Jahre ein Repertoire von über 300 Werken des 20. und 21. Jahrhunderts. 2007 wurde sie ausserdem Erster Sopran der Neuen Vocalsolisten.

Fotos Vocalsolisten: Martin Sigmund

 

Uwaga!

2007 gegründet sprengt Uwaga! genüsslich jede nur erdenkliche Genregrenze. Dabei spiegelt das akustische Crossover-Repertoire die unterschiedlichen Schwerpunkte der vier Musiker wieder – allerdings sind diese über die Jahre zu einem sehr eigenen Sound irgendwo zwischen Klassik, Jazz, Zigeunermusik und modernem Pop verschmolzen.