Deutsche Weisen: Beispiele

Anal mele panithuli

Ich tanze und singe gerne. Das Lied „anal mele panithuli“ habe ich bei einer Freundin kennengelernt. Alle tamilischen Mädchen haben eine große Feier, wenn sie die Tage bekommen. Dort wird viel gegessen, es kommen ganz viele Leute und das Mädchen darf zum ersten Mal einen Sari anziehen. Meine Freundin hat dieses Lied bei ihrem Pubertätsfest vorgesungen und es hat mir sofort gefallen. Es ist eher ruhig und hört sich ein bisschen traurig an.

Ich tanze auch gern tamilisch. Eigentlich ist das komisch, weil man ja noch nie dort war und auch nicht wirklich weiß, wie die leben. Aber meine Eltern haben es mir erzählt und ich habe auch ein Buch, das ein tamilischer Junge geschrieben hat.

Piraarthana Ravishangar, 11 Jahre, Schülerin

 

 

 

Die Fahnen hoch

ER:
Wenn eine Versammlung war, wurde zum Schluss aufgestanden und das Deutschlandlied und „Die Fahnen hoch“ gesungen.

SIE:
Erst „Die Fahnen hoch“ und dann das Deutschlandlied.

ER:
Für mich war's lästig. Für mich war der ganze Komiss lästig, von Anfang an bis zu Ende. Die Einschränkung der Freiheit.

SIE:
Wenn man marschiert ist, wurde auch gesungen. Wir sind ja ewig marschiert.

ER:
Das waren so Kampflieder, die waren eigentlich ein Vorbote für alles, was dann später passiert ist.

Willi Knecht, 89 Jahre, Rentner
Alice Knecht, 88 Jahre, Rentner

 

Ein hebräisches Kinderlied

Ich konnte kein Hebräisch. Meine Eltern haben ein bisschen Hebräisch verstanden, aber nicht gesprochen. Es war zu gefährlich. Die Kommunisten waren Atheisten und sie haben das verfolgt. Aber mein Opa hat die Tradition gepflegt. Ich wusste nicht, was Rosch ha-Schanah ist. Aber ich wusste: Opa kocht. Und an diesem Abend im September sang er immer viele hebräische Lieder. Er hatte eine sehr schöne Stimme. Er hat mich auch ein sehr schönes Kinderlied auf hebräisch gelehrt, und ich habe das gesungen. Niemand hat mir gesagt, ich darf nicht singen. Aber dann kam die Grundschullehrerin zu uns ins Haus, zu meiner Mutter, und hat fast geweint. Hat gesagt, ich darf das nicht machen, weil wir sonst im Gefängnis landen. Das Lied war für mich verboten, für immer. Ich war sehr traurig und konnte nicht verstehen, warum. Und mein Opa hat es nie wiederholt, er hat nie mehr mit mir hebräisch gesprochen.
Später, als ich studiert habe, war mein Opa sehr schwer krank. Nach der Abschlussprüfungen an der Musikhochschule – ich habe nur Einser gehabt, ein rotes Diplom – hat er mir am Telefon gratuliert und gesagt, ich soll schnell kommen. Und dass er mich umarmen will. Ich bin gleich am nächsten Tag gekommen. Der Zug von Moskau kam morgens früh um sechs Uhr an. Ich musste im Bahnhofsgebäude lange auf ein Taxi warten, es war ein sehr regnerischer Tag.
Dann war ich endlich bei ihm. Wir waren zu zweit. Er lag im Bett, ich saß daneben und er hat mir alles erzählt. Über seine Familie aus Polen. Über Schwester und Neffe, die während der Pogrome verschwunden sind. Und über meine Urgroßeltern. Dass ich die Urenkelin von zwei Rabbinern bin. Von mütterlicher und väterlicher Seite.
Am nächsten Tag, nach unserem Gespräch, ist er gestorben. Der Herrgott hat es so gewollt, dass er auf mich wartet.
Das war sein Haupttestament, dass er mir gesagt hat: „Wir sind Juden. Wir haben eine Religion. Dein Urgroßvater war Rabbiner.“ Und dann hat er noch gesagt: „Nimm die ganze Familie und gehe in den Westen“. 1977 war das, es war Utopie. Ich konnte nicht verstehen, was er meint. Und jetzt bin ich hier.

Margarita Volkova-Mendzelevskaya, 57 Jahre, Pianistin und Klavierlehrerin

 

 

Hier ist ein Mensch

Die Katze hat meinen Nachbarn gehört, die haben hier vis–à–vis gewohnt und sind nach Jugoslawien gefahren, in Urlaub. Das Kätzchen blieb hier, für sich alleine.

Ich wohne ja auch alleine. Mein Mann ist gestorben, der hatte leider eine ganz böse Krankheit. Ich mache meinen Haushalt, meinen Garten, helfe manchmal meiner Tochter. Und ich habe meinen Friedhof, wo ich meine Verstorbenen pflege und die Gräber zurecht mache.

Eines Tages mach ich die Türe auf und da sitzt die Katze auf meiner Treppe und macht so „miau“. Hat geweint.
Der Peter Alexander hat ja so ein schönes Lied gesungen, „Hier ist ein Mensch, der will zu dir. Lass ihn hierein, er wird dir dankbar sein.“ Und da habe ich stattdessen gedacht: „Hier ist ein Tier, das will zu dir. Lass sie herein, sie wird dir dankbar sein.“ Und seit dieser Zeit habe ich die Katze.

Christine Reichard, 77 Jahre, Rentnerin

 

 

 

Higher and higher

„Lifting, lifting me up, lifting me, higher and higher!” Das mag ich gern, weil das mein Papa im Chor singt. Ich sing das auch, mit meiner Gitarre.

Simon Taphorn, 3 Jahre

 

 

 

 

 

 

 

 

So oder so ist das Leben

Ich habe gerne gelebt. Und ich sterbe auch gerne. Kürzlich habe ich von meinem Tod geträumt. Es war ein schöner Traum, alles war ganz hell und gläsern.
Nur der Weg dorthin ist schwer. Die vielen kleinen Abschiede. Jeden Tag verliert man etwas. Aber man lernt auch dazu bis zum Ende. Das hätte ich nicht gedacht, dass ich in meinen letzten Lebenswochen noch so viel lerne.
„So oder so ist das Leben“, das stammt aus einem ganz alten Film, den kennt heute keiner mehr. Ich möchte, dass dieses Lied zu meinem Abschiedsfest gespielt wird: meiner Beerdigung. Meine Freundin brennt das dafür auf CD: Erst das Lied, dann ein paar Abschiedsworte von mir.
„So oder so ist das Leben, so oder so ist es gut. So wie das Meer ist das Leben, ewige Ebbe und Flut. Heute nur glückliche Stunden, morgen nur Sorgen und Leid…“: Besser kann man das nicht ausdrücken.

Thea Leistl, 81 Jahre, Schallplattenverkäuferin (gest. 2011)

 

 

 

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten

Viele Deutsche wissen das nicht: Dass alle japanischen Kinder "Loreley" von Silcher auf japanisch kennen. "Na-ji ka wa shi-ra-ne-do ko ko-ro wa-bi te…" Hier in Deutschland lernen die Kinder leider nicht mehr diese alten, eigentlich schönen Volkslieder, aber alle japanischen Kinder können das auswendig. Ähnlich wie hier in Deutschland ist in Japan nach dem Krieg alles gestrichen worden, das mit dem Kaiser oder dem Nationalismus verbunden war. Und was kommt dann stattdessen in die Schulmusik? Zuerst einmal die europäische Notenschrift und dann viele Lieder aus Deutschland.

Ich habe das schon in der sechsten Klasse im Chor gesungen, wir haben mit diesem Lied auch einen Wettbewerb gewonnen, weil einfach die Komposition so schön ist. Das Lied war meine erste Begegnung mit Europa. Eigentlich ist das ja eine grausame Geschichte, mit den vielen Seefahrern, die versunken sind. Aber als Kind habe ich das überhaupt nicht traurig empfunden, sondern ich dachte: Was ist denn "goldenes Haar"? Als Asiatin kennt man das ja überhaupt nicht.

Mit fünfzehn habe ich das dann als Solosängerin vertieft. Ich hatte Gesangsunterricht und es gab wieder einen Wettbewerb. Neben Mozart-Arien habe ich unter anderem auch die "Loreley" gesungen. Die erste Strophe deutsch und die zweite japanisch. Ich habe viel Lob bekommen und mir wurde dann in dem Moment bewusst: "Okay, klassischer Gesang, das ist vielleicht meineRichtung".

Das ist für mich schon ein Lebenslied geworden.

Warum die Japaner die deutschen Lieder mögen? In der Musik steckt eine ganz innere Ruhe und ein schimmernder Inhalt. Es geht nicht nur darum, die Stimme vorzuführen, sondern es sind auch viele Gedanken darin versteckt. Und diese Verstecktheit, das lieben die Japaner. Wenn die Kunst nach innen gewendet ist. Drei Wörter zu sagen, und zehn Wörter sind darin versteckt.

Eri Nabeya-Uhlig, 46 Jahre, Sängerin

 

 

 

Yüksek Yüksek Tepelere

Als meine Eltern mit mir nach Deutschland kamen, war ich ungefähr 18 Monate alt. Bis zum sechsten Lebensjahr war ich hier, dann haben meine Mama und Papa gesagt: „Okay, er muss zu Oma und Opa“. Damit sie alles hier organisieren können, diese ganzen Papiersachen. Das dauert ja seine Zeit.

Das war ein kleines Dorf in der Nähe von Istanbul, dort habe ich dann die Grundschule besucht, von der ersten bis zur dritten Klasse. Meine Oma und mein Opa hatten ein eigenes Haus und Nutztiere. Kühe, Hühner und so weiter, für den Eigenbedarf. Und einen Garten, da waren Apfelbäume und Kirschbäume. Mein Lieblingsbaum war ungefähr 50 Meter, mit vielen Ästen. Da konnte man im Sommer schön klettern. Ich war ja klein, da ist man ein bisschen flink. Und ich wollte singen. Deswegen war ich da immer oben.

Wenn die Eltern nicht da sind, dann ist man ja etwas sensibel, und diese Sehnsucht, wie ich meine Mama vermisse, wollte ich mit einem Lied verbinden. Es gibt ein Lied, das heißt auf deutsch „Man sollte die Häuser nicht auf den hohen Bergen bauen“. Das habe ich gerne dort oben gesungen.

Diese Ferne, der Blick über die Berge, das Lied – das war für mich immer ein schönes Gefühl.

Necdet Köksalan, 43 Jahre, Musiker

 

 

 

Glück auf, der Steiger kommt

Als ich Kind war, war das normal: Da waren die Väter entweder bei Krupp oder bei Thyssen, oder die haben im Bergwerk gearbeitet. „Der Steiger kommt“, dieses Bergmannslied, das war einfach da. Das gehörte einfach dazu. Bei Jugendfreizeiten wurde das gesungen, oder mit meinen Freundinnen, oder wenn wir im Urlaub waren, im Auto.

Wegen dem Akkordeon, da wurde nicht lange diskutiert. Mein Bruder durfte Gitarre lernen, meine Schwester und ich Akkordeon. Das war das Instrument des kleinen Mannes. Klavier, das war was für höhere Töchter. Irgendwann hieß es: Okay, der Lehrer hat gesagt das Kind ist begabt, und dann wurde dieses teure Instrument gekauft. Das Akkordeon war so teuer, dass die Eltern auf den Farbfernseher verzichten mussten.

Ich war froh, als ich einen Akkordeonlehrer hatte, der mit mir ganz viel Neue Musik gespielt hat. Das war für mich wirklich ein Befreiungsschlag. Das war dann ein fettes Thema zwischen meinen Eltern, die musikalisch einfach gestrickt sind, und der Tochter, die da irgend so was Durchgeknalltes spielt. Mein Opa, der sagte immer: „Ute, kannste nicht mal was Schönes spielen?!“

Aber den „Steiger“ liebe ich heute noch. Weil das meine Wurzeln sind. Vielleicht sollte ich mal eine ganze CD damit machen und das verwursten.

Ute Völker, 49 Jahre, Improvisationsmusikerin und Akkordeonlehrerin

 

 

 

Glück auf, der Steiger kommt

Ich hab von Kind auf in Essen gelebt. Fünfundachtzig Jahre. Essen ist ja immer die Bergmannsstadt gewesen. Meine ganze Familie, unserer Nachbarn, das waren alles Bergleute.

Mein Bruder, der war mit achtzehn Jahre gefallen. Er war noch nicht mal 24 Stunden an der Front. Und so viele Freunde, wir waren eine schöne Schar von Jungens. Dreizehn davon kamen nicht mehr wieder. Das war schon hart: Du kommst heim, und so viele sind nicht heim gekommen. Da hat man sich eigentlich geschämt. Und das vergisst man nicht.

Später habe ich in verschiedenen Chören gesungen. Im Post-Chor, im Eisenbahner-Chor und im Krupp-Chor, das war ja auch ein Bergmanns-Chor. Wir hatten ja sehr viele Chöre in Essen und man hat sich gegenseitig ausgeholfen. Es war immer eine schöne Harmonie. Wir haben gute Freundschaft gehabt, wunderbar war das. Aber als dann nachher die Zechen alle geschlossen haben, war man doch erschüttert. Auf einmal waren alle ringsum ohne Arbeit. Und die Chöre wurden auch immer kleiner.

Wenn man so alt ist, erlebt man viele Abschiede. Aber ich lass mich nicht unterkriegen. Das ist wichtig, dass man nicht nur in Trauer schwebt, sondern immer weiter macht. Ich will ja hoffen, dass ich das noch ein paar Jahre durchhalte.

Alfred Adamczak, 93 Jahre, Postangestellter

 

 

 

Mademoiselle Chante le Blues

Mein Traum war immer, mit einem Güterzug mitzufahren. Weit weg, in die Freiheit.

Als Jugendliche bin ich hier immer aufgefallen. Ich war kein Vereinsmensch, eher so ein Einzelgängertyp. Mit 13,14 fing ich an, ganz in Schwarz herumzulaufen, und dann wurde ich immer angesprochen: "Na, ist jemand gestorben?". Aber ich habe das für mich gemacht, um mich abzuheben. Mit 18, 19 habe ich nur noch meine eigenen Kleider getragen, und mit 20 hatte ich schon meine erste Modenschau.
Später habe ich dann die Musik von Patricia Kaas für meine Modenschauen entdeckt. Sie passt zu meinen Kleidern: Ein bisschen frech, ein bisschen großstädtisch, sehr feminin.

Frei sein, ganz weit weg fahren: Irgendwie habe ich das dann doch nicht gemacht. Inzwischen wohne ich schon lange wieder hier im Dorf und habe auch meinen Laden hier. Obwohl das natürlich ein Risiko ist. Weil es hier keine Laufkundschaft gibt für Haute Couture.

Warum ich am Ende dann doch hiergeblieben bin? Ich weiß es nicht. Vielleicht hab ich mir ja stattdessen ein bisschen Freiheit hierher geholt, und ein bisschen Großstadt-Flair.

Christina Kreuz, 43 Jahre, Modellschneidermeisterin und Designerin

 

 

 

Wenn ich einst groß bin, wird dein Leben schön

Wir reisen durchs ganze Land, unser Theater besteht schon in der fünften Generation. Großmutter ist immer noch dabei, die ist 87 Jahre alt und steht immer noch auf der Bühne. Das ist ihr Leben. Und an die Kinder wird es auch weitergegeben. Unsere Kleinen mit ihren vier Jahren spielen auch schon mit. Damit das Ganze weiterlebt.

Mit der Schule haben wir natürlich Probleme gehabt. Jede Woche hat man die Schule gewechselt. Da hat man gerade Freundschaft geschlossen und dann geht es schon wieder weiter, in die nächste Stadt und zur nächsten Schule. Das hat einen schon ein bisschen verletzt. Man lernt, damit umzugehen – und trotzdem: im Herzen war es dann doch immer traurig.

Umso mehr sind wir Familienmensch. Wir stehen zusammen, wir leben zusammen und wir sterben auch zusammen, glaube ich. Deswegen haben uns auch die Lieder von Heintje immer begleitet. "Wenn ich einst groß bin, wird dein Leben schön"; das spiegelt alles wider, was wir fühlen: Wenn ich groß bin und du älter wirst, bin ich für dich da. Weil du warst ja für mich da. Jahrelang.

Andreas Sperlich, 36 Jahre, Schauspieler