Anlässlich der Verleihung des Rheinischen Kulturpreises am 17.10.2002 an Mauricio Kagel (Großer Preis) und Bernhard König (Förderpreis)
Der Anruf kam völlig unerwartet. Eines Abends fand ich auf meinem Anrufbeantworter, erstmals seit Jahren wieder, die vertraute Stimme meines einstigen Lehrers vor, der mich bat, ihm doch einige Unterlagen zu meinem aktuellen Schaffen zuzusenden. Die Nachricht endete in unnachahmlichem Kagelschem Idiom: „Frragen Sie bitte nicht, wofür ich es brrauche; seien Sie wohlen Mutes!“
Kurze Zeit später war das Geheimnis dann gelüftet: Kagel hatte mich für den Förderpreis der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland vorgeschlagen. Für mich ein unerwarteter Anlass, erneut darüber nachzudenken, was und wieviel ich diesem ungewöhnlichen Lehrer verdanke. Und eine überfällige Gelegenheit, meine Dankbarkeit innerlich zu komplettieren. Denn obwohl sie von Beginn an stets prägend für mein Verhältnis zu Kagel gewesen war, war diese Dankbarkeit (wie es bei einem Schüler-Lehrer-Verhältnis wohl die Regel sein dürfte) keineswegs „porentief rein“ gewesen, sondern blieb lange Zeit getönt von unterschiedlichen Grauwerten und durchsetzt von blinden Flecken.
Uneingeschränkt war sie stets dort gewesen, wo sie den Handwerker Mauricio Kagel betraf: einen Meister im wahren Wortsinne, der uns „Lehrlingen“ eine fundierte handwerkliche Basis vermittelte, ohne uns auch nur im Geringsten in der Freiheit unseres künstlerischen Ausdruckes einzuschränken. Noch heute ziehe ich, wenn ich vor einem notationstechnischen Problem stehe, meine Kagel-Partituren aus dem Regal, und schaue nach: Wie hat er das gemacht?
Ein wenig ambivalenter verhält es sich mit der Dankbarkeit gegenüber dem berühmten Komponisten. Ein solcher Name in der eigenen Vita weckt durchaus Interesse und öffnet einem manche Tür, hinter der aber prompt die große Schublade lauert: Man bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung ein „Kagel-Schüler“ (befindet sich als solcher freilich in bester Gesellschaft).
Auf vollends wackligen Füßen stand lange Zeit meine Dankbarkeit gegenüber dem Multitalent Kagel, dem produktiven, vielseitigen und unermüdlichen Arbeiter. Als ich (von nicht allzu großen Repertoirekenntnissen belastet) in meinen ersten Studienjahren begann, mir allmählich die experimentellen Möglichkeiten des Tanz- und Musiktheaters, des Hörspiels und des Films zu erobern, musste ich nach und nach feststellen, dass überall wo ich hinkam, er schon längst gewesen war. Nichts schien es zu geben in all diesen Bereichen, was er nicht schon vor Jahrzehnten selber gemacht, gedacht, auf den Punkt gebracht hatte. Der naive Glaube, völliges Neuland zu betreten, wurde zunehmend überschattet von dem nicht minder naiven und resignativen Gefühl: Alles schon längst abgegrast.
Dass eine solche Resignation auch ihre Chance birgt, weil sie dazu zwingt, nach einem eigenen Weg zu suchen, wurde mir erst Jahre später klar. Sie mag jedenfalls, neben anderen Faktoren, mit dazu beigetragen haben, dass ich mich nach Beendigung des Studiums für einige Jahre völlig vom Konzertbetrieb der „Neuen Musik“ abwandte. Statt für den Konzertsaal und für ausgebildete Berufsmusiker zu komponieren, produzierte ich „experimentelle Gebrauchsmusik“: Arbeitete mit Kirchenchören und Breakdancern zusammen, konzipierte Musik für Altenheime, Behinderteneinrichtungen und Schulen.
Erst in den letzten zwei Jahren beginne ich allmählich wieder, diese dialogischen und prozesshaften Arbeitsweisen, die stärker am Menschen als am künstlerischen Produkt orientiert sind, mit dem von Kagel geprägten Handwerk zu verbinden und fließende Übergänge zwischen Konzertsaal und Außenwelt zu schaffen.
So bin ich Mauricio Kagel heute vielleicht am dankbarsten dafür, mich durch die eigene große Präsenz und Vielseitigkeit frühzeitig von allen abgegrasten Weiden ferngehalten und auf abgelegenes Gelände gescheucht zu haben, das mir anfangs unwegsam erschien und sich allmählich doch als recht fruchtbar erweist. Fruchtbar genug jedenfalls, um „wohlen Mutes“ in die Zukunft zu schauen.