vermisst:...

Ein Abend über das Verschwinden

Ein Kooperationsprojekt des Posaunenwerks der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Theaterwerkstatt Bethel in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Militärseelsorge. Uraufführung am 22. Mai 2009, 21.30h im Rahmen des 32. Deutschen Evangelischen Kirchentags (Bremen).

«Es gibt ja dieses Kinderlied: „Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß, bringt ein Brieflein im Schnabel, von der Mutter einen Gruß“. Und als mein Vater dann nicht zurückkam und wir nicht wussten was mit ihm geschehen ist, habe ich immer ihn da eingesetzt: „Bring vom Vater einen Gruß, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hierbleiben muss.»

(Hilde Osterkamp)

«These foolish things remind me of you...»

(Frank Sinatra)

(Fotos: Matthias Gräßlin)

Dem Toten kann man ein Requiem singen, der Wiedergekehrten ein Freudenlied. Aber wie singt man einem Verschwundenen?
„Mensch, wo bist du?“ lautet das Motto des 32. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Bremen. vermisst:... nimmt dieses Motto wortwörtlich und erzählt in Texten, Tönen und Bildern von Menschen, die unterwegs verschollen, von zu Hause geflüchtet oder im Krieg gefallen sind; von verschleppten Terroropfern oder verirrten Demenzkranken. Und vom Schicksal derer, die zurückbleiben: Vom Stillstehen der Zeit und vom ewigen Karussell der Gefühle.

 

"Vermisst:...": Zum Stück

Das plötzliche Verschwinden eines nahen Angehörigen – sei es aufgrund eines Unfalls oder Verbrechens, sei es aus freien Stücken oder als Folge von Orientierungslosigkeit – ist stets eine traumatische Erfahrung. Ein emotionaler Grenzzustand, der – solange die Ungewissheit anhält – kaum gelindert werden kann und den zwar in Kriegs- oder Krisenzeiten viele miteinander teilen, der aber unter heutigen, alltäglichen Rahmenbedingungen meist den Charakter eines bizarren Einzelschicksals trägt, das die Betroffenen zusätzlich von ihrem sozialen Umfeld isoliert und entfremdet: „Noch heute verlassen wir jedes Hochzeitsfest, jeden Geburtstag schon am frühen Abend“ erzählt der Vater eines vor zehn Jahren verschwundenen Sohnes. „Es traut sich ja keiner, in unserer Gegenwart ausgelassen zu feiern“.
In den Medien bringen es manche besonders „sensationelle“ oder „gruselige“ Fälle zu kurzzeitiger Prominenz – von den jahre-, manchmal jahrzehntelangen Folgen für die einzelnen Angehörigen hingegen weiß die Öffentlichkeit nur wenig.

 

Suche nach einer adäquaten Form

Ein Gottesdienst? Eine Musiktheater-Performance? Eine Gedenkveranstaltung? In der Vorbereitung auf dieses Thema wurde rasch deutlich, dass keines dieser Formate dem Thema wirklich gerecht wird.
Dem Aufbau von vermisst:... liegt die formale Idee eines „Karussells der Gedanken und Gefühle“ zugrunde. Ähnlich wie das Wechselbad aus Hoffnung, Resignation und Trauer für die Betroffenen häufig einen Zirkel bildet, dem nur schwer zu entrinnen ist, verläuft die Dramaturgie dieses Abends nicht geradlinig, sondern „dreht sich im Kreis“: Verschiedene Spielformen – kurze Theaterszenen, Lesungen, choreographische und liturgische Elemente, Tonbandstimmen mit musikalischer Begleitung – durchdringen einander, tauchen auf, verschwinden und kehren zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurück.
Das szenische und choreografische Material entsteht im Zusammenwirken mit einer sehr heterogenen Projektgruppe aus Menschen verschiedenster gesellschaftlicher Herkunft. Die Mitwirkenden bringen zusätzlich zum dokumentarischen Material eigene Erfahrungen und Sichtweisen ein, steuern ihre Interpretation zu vermisst:... bei. Regie und Choreografie führen die Ideen zu einer Form, die dem Publikum den nötigen Raum für die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema gibt.
Die eigens für diese Aufführung komponierte experimentelle Bläsermusik bewegt sich durch den gesamten Raum, umkreist das Publikum und wird ergänzt durch einen vielstimmigen Megaphon-Chor und Improvisationen für Geige und Akkordeon.


(Fotos: Kai Büchner und Matthias Gräßlin)

All diese unterschiedlichen künstlerischen Mittel dienen letztlich einem gemeinsamen Zweck: den Fokus auf jene Aspekte des Schicksals „Verschwundener“ und ihrer Angehöriger zu richten, die in der öffentlichen Berichterstattung häufig zu kurz kommen oder gar tabuisiert werden – als künstlerisch gestaltete Klage und Solidaritätsbekundung; als gemeinsames Gebet und Gedenken; als inszenierte Annäherung an ein sperriges und vielschichtiges Thema.
Doch es bleibt nicht bei der Klage und bei der Darstellung von Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit. Wenn überengagierte Talkmaster, eifrige Boulevard-Journalisten oder Hellseher und andere selbsternannte profitbewusste Helfer zitiert werden, dann wird es auch satirische Anklänge geben.
Und auch dies wird sich im Verlauf dieses Abends zeigen: Es gibt Auswege aus dem „Karussell der Gefühle“. Wenn Verschwundene zurückkehren (was in 80% der Fälle schon nach kürzester Zeit der Fall ist). Wenn nach langem Warten die – häufig als erlösend empfundene - Todesnachricht eintrifft. Oder wenn es Angehörigen gelingt, ein Stück weit loszulassen und schlicht weiterzuleben, statt „in Hoffnung zu versteinern“ – aller Ungewissheit zum Trotz.

 

"vermisst:...": Die Mitwirkenden

Konzept und Realisation:

Idee: Friedemann Schmidt-Eggert
Textbuch: Bernhard König und Nicole Zielke
Komposition: Bernhard König
Regie: Kai Büchner und Matthias Gräßlin

Konzeptionelle Mitarbeit: Sabine Griese
Co-Autoren: Nicole Pasuch, Alfred Schultz
Koordination Kirchentag: Inga Krefis

Volxtheater-Ensemble der Theaterwerkstatt Bethel, Bielefeld:

Frank Bartelniewöhner, Ingeborg Gagelmann, Volker Hellwig, Bastian Horn, Kika Kern, Lotti Kluczewitz, Jenny Krämer, Kalle Melzer, Barbara Müller, Nicole Pasuch, Sigrid Polanski, Daniel Rimmert, Alfred Schultz, Brunhild Schulz, Daniel Titze sowie Jugendliche der Zionsgemeinde Bethel

Musik:

Christoph König, Violine und Viola
Miroslaw Tybora, Akkordeon
Jenny Krämer und Frank Bartelniewöhner, Gesang
Experimenteller Bläserchor Rheinland (Leitung: Jörg Häusler)
Bläser der Posaunenmission Bethel

Technik:

Gregor Bonse, Ton
Bastian Horn, Bühne und Technik
Ramon Kallenbach, Ausstattung und Bühne
Lotti Kluczewitz, Kostüme
Tanja Krüger, Produktion Zuspielbänder
Malte Pill, Licht
Nicole Zielke, Produktionsassistenz

Produktion:

Posaunenwerk der Evangelischen Kirche im Rheinland
Theaterwerkstatt Bethel mit freundlicher Unterstützung durch die Stiftung der Sparkasse Bielefeld

 

Für inhaltliche Beratung danken wir:

Prof. Dr. Matthias Benad, (Kirchliche Hochschule Bethel/Wuppertal)
Günther Bergmann (Diensthundeführer/Polizeipräsidium Bielefeld)
Bärbel Bitter (Historische Sammlung Bethel)
Beate Böhm (Hauptarchiv Bethel)
Lars Bruhns (Vermisste Kinder e.V.)
Dipl. Psych. Christiane Faist (Psycholgischer Beratungsdienst / Gesellschaft für Sozialarbeit e.V.)
Lilli Giesbrecht (DRK Kreisverband Bielefeld e.V., Suchdienst
Dr. Hansjörg Kalcyk (DRK-Suchdienst, München)
Gisela König
Reinhard Neumann (Archiv der Diakonischen Gemeinschaft und Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth)
Polizeipräsidium Bielefeld
Hilde Osterkamp
D.R.
Herr Sachse (DRK-Suchdienst München)
Herrn Scheipel, Herrn Schmachtel und Herrn Werner (Polizeipräsidium Köln)
apl. Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl
Ingrid Stock-Döring
Else Nathalie Warns
Familie Wegner (www.disparu.de)

Für materielle und organisatorische Unterstützung danken wir:

Evangelische Militärseelsorge
Jugendhaus Gosen
Projektleitung Kirchenmusik des 32. Deutschen Evangelischen Kirchentags
Radio Antenne Bethel
Julia Lefarth und Jan Osterkamp
Pia Winkler (Polizei-Seelsorgerin, Bielefeld)

 

(Abbildung links oben: Suchdienst-Kartei des Deutschen Roten Kreuzes, Quelle www.hdg.de)