ICH HAB DAS FRÄULEIN BADEN SEHN... (2009)

Eine Lieder-Revue mit Tanz, Hörspiel und experimenteller Musik

Kompositionsauftrag der Villa Musica Rheinland Pfalz; Projektauftrag des Netzwerks Villa Musica. AG Neue Musik des Leininger Gymnasiums Gründstadt, neunte Klassen des Landesmusikgymnasiums Rheinland Pfalz, Montabaur. Uraufführung: 18. Mai 2009 in Grünstadt (Pfalz).

«Als ich mal frisch verliebt war und bei ihr war, hörten wir "My heart will go on" und immer wenn ich das Lied heute noch im Radio, Fernsehen, Mp3-Player höre, denke ich an sie und die schöne Zeit.»
«Vor eineinhalb Jahren ist ein guter Freund von mir bei einem Autounfall verunglückt. Bei seiner Beerdigung haben wir sein Lieblingslied gespielt: "Under the Bridge" von den Red Hot Chilli Peppers.»
«Meine Großmutter habe ich nie kennen gelernt. Aber irgendwann hat mir meine Mutter erzählt, dass sie gerne ein Kirchenlied gesungen hatte: Geh aus mein Herz und suche Freud. Und jetzt, wenn ich an meine Großmutter denke, singe ich das manchmal.»

Viele Menschen haben ein persönliches Lieblingslied – und manche haben sogar ein „Lebenslied“: Eine Melodie, die für den oder die Betreffende mit einer ganz besonderen Geschichte, Stimmung oder Erinnerung verknüpft ist. Erste Verliebtheit oder traumatischer Verlust. Tiefe Trauer oder überschäumende Lebenslust. Inbegriff glücklicher Kindheit oder beklemmender Anklang an dunkle Zeiten.
Rund 80 Schülerinnen und Schüler aus Grünstadt und Montabaur haben in Straßenumfragen und in Gesprächen mit Altenheimbewohnern solche „Lebenslieder“ mitsamt den dazugehörigen Geschichten gesammelt. Und sie haben in ihren eigenen Erinnerungen gegraben: Nach dem allerersten Lied ihrer Kindheit oder nach einem besonders lustigen, peinlichen oder traurigen Lieder-Erlebnis. Der Komponist und Interaktionskünstler Bernhard König hat aus dieser Sammlung von Melodien und autobiographischen Erzählungen ein multimediales Musiktheater konzipiert, das die beteiligten Schüler selbst zur Aufführung brachten.

 

Die Aufführung (Fotos von Jane Dunker)

(Szenenfotos: "Die scheißesten Lieder aller Zeiten")

(Szenenfotos: "Rollklaviere" und "I'm a bitch")

(Szenen- und Probenfotos: Schüler des Landesmusikgymnasiums / der AG Neue Musik Grünstadt)

Probenfotos: Tobias Simon / eine Schülerin / Silke Egeler-Wittmann

Begegnung der Generationen

«Ich hab das Fräulein baden seh’n, das war schön!
Da kann man Waden seh’n, wunderschön!.»

Lieder als Träger von Geschichte und Geschichten

Ob im Fußballstadion oder in der Kirche, unter der Dusche oder auf der Karaokeparty – es gibt sie noch: gesungene Lieder, „Volks-Lieder“, eine lebendige Graswurzel- und Gebrauchsmusik jenseits des glatten Perfektionismus kommerzieller Massenproduktion. Stärker als im bloßen Erzählen und Erinnern sind in Liedern oft sehr intensive Emotionen gespeichert: Gestandene Erwachsene werden plötzlich ausgelassen, albern oder verletzlich. Demenzkranke oder andere Menschen, die mit Sprache nur schwer zu erreichen sind, können „via Lied“ in Dialog mit ihrer Umgebung treten, uralte Menschen fühlen sich in ihre Jugend zurückversetzt.
Wenn sich in diesem Projekt also Schülerinnen und Schüler aus Grünstadt und Montabaur auf Spurensuche begeben und rheinland-pfälzische Mitmenschen unterschiedlichster Herkunft nach „ihrem“ Lied befragt haben, dann ging es dabei nicht nur um Geschichten, sondern auch um Geschichte: Um einen sehr lebendigen, subjektiven Rückblick auf die vergangenen 70 bis 80 Jahre. Da kann es schon einmal geschehen, dass in ein- und demselben Lied ganz unterschiedliche und ambivalente Lesarten dieser Geschichte anklingen, wie es der folgende Beitrag einer sechzehnjährigen Schülerin deutlich macht:

«"Paulinchen" war das erste Lied, das ich mit rund zwei Jahren auswendig konnte. Mein Opa hatte es mir und meinem Bruder beigebracht. Auf allen Ausflügen sangen wir es gemeinsam. Als Kinder lachten wir viel über den Text, da es an einer Stelle zum Beispiel heißt: „... und schossen dem Paulinchen die Unterhose los...“. Erst viel später, in der Schule, wurde mir klar, dass es ein Kriegslied war. Es ging um die französische und die deutsche Armee im 2. Weltkrieg. Ein Mädchen wird im Kampf getötet. Das Ende ist sehr grausam. Trotzdem liebe ich dieses Lied, es hält die Erinnerungen an meinen Opa wach, der inzwischen verstorben ist. Ich werde es auch auf jeden Fall meinen Kindern beibringen.»

 

Gipfeltreffen der musikalischen Schulkultur

Die Aufführungsbesucher erwartet also ein ungewöhnliches Kulturereignis – und dies nicht nur in Hinblick auf den Inhalt, sondern auch auf die musikalische Qualität. Denn auf einer Konzertbühne zu stehen, das ist für die hier beteiligten Schülerinnen und Schüler wahrlich keine Seltenheit. Wer im Montabaurer Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz zur Schule geht, für den sind Auftritte als Solist oder in einem der zahlreichen Schulensembles geradezu alltägliche Normalität. Für langjährige Teilnehmer der AG Neue Musik Grünstadt wiederum ist es eine häufig gemachte Erfahrung, in unmittelbarem Dialog mit einem Komponisten ein neues Stück zu entwickeln.
Ein regelrechtes „Gipfeltreffen“ rheinland-pfälzischer Schulkultur also – und doch gab es auch hier für die Beteiligten viel Neuland zu entdecken. Für die überwiegend klassisch ausgebildeten Nachwuchsmusiker aus Montabaur war es eine abenteuerliche und durchaus gewöhnungsbedürftige Erfahrung, ein Musikprojekt ohne die Sicherheit einer fertigen Partitur zu starten. Für die Grünstädter wiederum wird es ein besonderes Erlebnis sein, die von ihnen entwickelten experimentellen Musiktheaterszenen erst kurz vor der Uraufführung mitsamt der zugehörigen Orchesterbegleitung zu erleben.

 

 

Kooperationen

Möglich gemacht wurde diese Begegnung zweier ganz unterschiedlich spezialisierter Schulensembles durch das „Netzwerk Neue Musik“, ein mehrjähriges Förderprojekt der Bundeskulturstiftung, dessen rheinland-pfälzischer Ableger „Spektrum Villa Musica“ den Kompositionsauftrag und die Workshops finanziert hat. Die Umsetzung des generationsübergreifenden Konzeptes wurde vor allem durch die enge Zusammenarbeit mit dem Alten- und Pflegeheim des Hospitalfonds Montabaur ermöglicht. Fotographisch begleitet wurde das Projekt durch die Fotokünstlerin Jane Dunker, deren Portraits am Rande der Konzerte zu sehen sein werden.

 

Die Mitwirkenden

AG Neue Musik des Leininger-Gymnasiums Grünstadt
Neunte Klassen des Landesmusikgymnasiums Rheinland-Pfalz, Montabaur

Komposition, Textbuch und Regie: Bernhard König
Co-Regie und Choreographie: Silke Egeler-Wittmann
Musikalische Leitung: Tobias Simon

Technische Leitung, Lichtdesign: Philipp Schwarze
Produktion Zuspielbänder: Klaus König
Ton: Lukas Klersy
Musikalische Einstudierung: Martin Eisel
Choreographie Montabaur: Alexander Fritzen
Ausstattung: Maria Schwarze-Kaufmann
Betreuung Interviews: Heike Pohl, Georg Mörsdorf, Matthias Jung
Fotos: Jane Dunker

Für tatkräftige Unterstützung danken wir:

Claus-Peter Beutenmüller
Büro für Konzertpädagogik, Köln
Michaela Frenz
MdL Manfred Geis
Richard Moser
Dr. Franz-Peter Opelt
Walter Reiter
Ute Wagner (Alten- und Pflegeheim des Hospitalfonds Montabaur)
Redaktionsteam der Zeitschriftenabteilung von Schott-Music Mainz
Mitarbeiterteam der Villa Musica Mainz

sowie allen von Unterrichtsausfall betroffenen Kolleginnen und Kollegen der beiden beteiligten Schulen.

 

Das Projekt findet im Rahmen von Spektrum Villa Musica Rheinland-Pfalz statt. Spektrum Villa Musica wird gefördert durch das Netzwerk Neue Musik, ein Förderprojekt der Kulturstiftung des Bundes.