Bernhard König und Matthias Gräßlin

Gelegentlich zusammen gewachsen.

Ein E-Mail-Dialog über die Arbeit zwischen Kunst und sozialem Prozess

In: Matthias Gräßlin (Hrsg.): Das eigene Theater – Die Theaterwerkstatt Bethel als Raum für künstlerische Entfaltung. Bielefeld, 2008 (S. 114-123)
VORBEMERKUNG:
Matthias Gräßlin und Bernhard König arbeiten seit 1991 immer wieder bei Musiktheaterprojekten zusammen. Dabei laden sich die beiden gegenseitig in ihre Produktionen ein, Bernhard König als Komponist und Musiker, Matthias Gräßlin als Regisseur und Choreograf.
Für eine Publikation zum 25jährigen Bestehen der Theaterwerkstatt Bethel, deren Leitung Matthias Gräßlin seit 1994 innehat, entstand der folgende E-Mail-Dialog.
 

MATTHIAS GRÄßLIN: Seit wir uns 1991 bei der Entwicklung des 1. Sachsenhausener Dreikönigsspiels in Frankfurt kennen gelernt haben, fasziniert mich jede neue Begegnung mit dir aus unseren sehr unterschiedlichen Wurzeln heraus. Du hast eine künstlerische Ausbildung im klassischen, akademischen Sinne erfahren, wurdest von Hause aus schon früh künstlerisch gefördert und bewegtest Dich von Beginn an im „Kulturbetrieb“. Ich bin aus einer zunächst sozialberuflichen und sozialpolitisch orientierten Entwicklung zum künstlerischen Arbeiten gekommen. Immer wieder treffen wir uns zu Experimenten im Grenzbereich zwischen Kunst und sozialem Prozess. Was interessiert Dich besonders an Projekten auf dieser Grenze?

BERNHARD KÖNIG: In der Einleitung zu deiner Frage ist bereits ein Stück meiner Antwort enthalten. Die entscheidenden Stichworte sind „Grenze“ und „künstlerische-akademische Ausbildung“. Denn so vielseitig, lehrreich und selbstbestimmt mein Kompositionsstudium auch war: Nachdem ich es abgeschlossen hatte, stieß ich sofort an Grenzen. Ökonomische Grenzen, Grenzen in der Entwicklung einer eigenen Berufsperspektive, Grenzen der Sinngebung. Der komplett professionalisierte, rundum subventionierte Konzertbetrieb, auf den das Ganze zielte, war nicht das, wo ich hinwollte.
Ich betrachte es rückblickend als großen Glücksfall für mich, dass ich an genau diesem heiklen Punkt meiner eigenen künstlerischen Entwicklung – statt ein weiteres akademisches Aufbaustudiums zu beginnen – in der Theaterwerkstatt in die Lehre gehen konnte. Denn dass es hier für mich viel zu lernen gab, wurde mir schnell deutlich: Als du mich das erste Mal eingeladen hast, im Rahmen eines größeren Erwachsenenbildungsprojektes gemeinsam ein Stück zu entwickeln, [ = die „Ur-Version“ von 9. Nov.] war diese Art von dialogischem Prozess für mich eine völlig unbekannte Arbeitsweise. Ich gab fortwährend Input, schrieb Texte, strampelte mich mit szenischen Ideen und dramaturgischen Ablaufplänen ab – all die Dinge eben, die ich in den Jahren zuvor gelernt hatte – , musste aber zunehmend feststellen, dass diese Art von Handwerk bei einem solchen Projekt offenbar gar nicht so sehr gefragt war, sondern dass der Anspruch lautete: „die Gruppe erfindet das Stück“. Es ging also primär um den Kontakt zum Ensemble; darum, aus den Spielern eigenes Potential, eigene Einfälle herauszukitzeln. Was für mich zunächst bedeutete: Mit einem Mal war ich plötzlich wieder auf die Rolle des blutigen Anfängers zurückgeworfen. Im Vergleich mit dir und deiner charismatischen Form von Gruppenleitung kam ich mir vor wie der reinste Autist. Erst allmählich begriff ich, dass es mit Charisma allein auch hier nicht getan ist, sondern dass dahinter eben auch wieder eine ganz eigene Art von Handwerk steckt – beispielsweise ein gewisses Grundrepertoire an Moderationstechniken und Warming-up-Übungen, die dann immer wieder variiert und modifiziert werden können. Und ich entdeckte, dass auch dieses Handwerk prinzipiell erlernbar ist. So etwas weckt dann natürlich schnell die eigene Neugierde, den eigenen Ehrgeiz.

MG: Bei der Inszenierung deines Examensprogramms „Generationen“ [= szenische Version der beiden Kompositionen Kirschen mit Flickdaum und Aus Alters Heimen] habe ich diese Spannungsverhältnisse extrem erlebt. Ich stand unter enormem eigenen Druck, den vermeintlichen Ansprüchen der Beteiligten aus Musikhochschule und Kölner Oper, nicht zuletzt unter den Augen deines Professors Mauricio Kagel, gerecht zu werden. Und tatsächlich konnte ich einigen Erwartungen der klassisch ausgebildeten Mitwirkenden nicht entsprechen. Umgekehrt konnten viele meine Einladung, parallel zu deinem Kompositions- und Textmaterial eigene Spielweisen zu entwickeln und diese dann in der Inszenierung gemeinsam zu verwenden, nicht annehmen. Aus ihrer Sicht sagt ein guter Regisseur, was er will, und dann wird es für ihn gemacht. Entweder passt das dann ins vorgefertigte Regiekonzept – dann geht’s weiter zum nächsten Punkt – oder nicht, mit der Folge, dass der Vorschlag des Darstellers oder Musikers abgelehnt wird und dieser frustriert erneut in Zugzwang gerät. Im ödesten Fall muss der Darsteller dann eher schlecht als recht tun, was sich der Regisseur gedacht hat. Wenn das dann wiederum dem ausführenden Künstler nicht gefällt oder an seinem eigentlichen Potential vorbei geht, kommt kein Leben in das Stück. Die beiden nicht ausgebildeten Darstellenden Christoph Kolb und Anne Kordbarlag waren dann auch der Anker, mit dem ich doch noch in der Arbeit landen konnte. Sie legten so viel Eigensinn vor, dass zögerlichere Kollegen allmählich mitzogen.
Laien haben zunächst nichts anderes als ihr eigenes Material. Ich kann ihnen Technik anbieten, um zum Ausdruck zu verhelfen und so mit mir in den Dialog über den Stoff, das Stück oder das Inszenierungskonzept zu treten. Dieses Potential zu wecken habe ich gelernt, bewegte mich damit allerdings immer im Bereich der – aus der Sicht der „Hochkultur“ verpönten Soziokultur.

BK: Ja, damals sind diese beiden Ansätze sehr unvermittelt aufeinandergeprallt. Doch bei aller Freude am offenen Prozess: diese pauschale Abwertung vorgeformter, geschlossener Regiekonzepte kann ich in dieser Schärfe dann doch nicht teilen – genauso wenig, wie ich eine gut gemachte „durchkomponierte“ Partitur oder einen von langer Hand geplanten Spielfilm verachte. Und umgekehrt habe ich durchaus auch in der Soziokultur schon viel Ödes gesehen...

MG: Es geht nicht um das einzig Richtige und auch nicht um die Ablehnung des künstlerischen Könnens und konzeptioneller Arbeit. Mittlerweile fürchte ich die Erwartungen meines Gegenübers nicht mehr – auch nicht die der „richtigen Künstler“. Ich zeige allen Respekt vor Gewohnheiten und Prägungen, die ja zugleich auch Erfahrung und Fähigkeiten bedeuten. Und ich bin neugierig auf die Ideen, Wünsche und Phantasien die sich dahinter verbergen.

BK: Etwas ketzerisch formuliert: Auch Profischauspieler sind bloß „Menschen mit besonderem Erfahrungshintergrund“...?

MG: ... und manchmal sogar „Menschen mit besonderem Assistenzbedarf“. Wichtig ist jedoch vor allem der gemeinsame Prozess. Wenn wir die Spiellust wecken, bildet sich im Zusammenspiel ein Vertrauensverhältnis, das zu einem gemeinsamen Ergebnis führt. Meine eigenen Ideen und Vorschläge fließen da von selbst ein. Mein Grundkonzept blockiert nicht, sondern wird zum Strukturmodell. Alle Beteiligten lernen, erkennen, reifen und tragen das Stück gemeinsam und mit voller Kraft an das Publikum heran. Die Reibung zwischen Konzept und Eigendynamik macht dabei für mich den Reiz aus. Beide Felder können sich unendlich bereichern. Das erfordert allerdings den aufrichtigen Mut Grenzen zu überwinden.

BK: Mittlerweile ist diese Erkenntnis ja fast schon zum Allgemeingut geworden. An vielen Stellen ist das, was einst in der Theaterpädagogik und in soziokulturellen Einrichtungen entwickelt wurde, in den „klassischen“ Kulturbetrieb eingesickert. Macht es dich eher stolz oder eher misstrauisch, wenn das, was sich vor einem Jahrzehnt noch wie Pionierarbeit angefühlt hat, nun fast schon zum Mainstream geworden ist?

MG: Dieser Aufbruch hat viel mit dem Wandel des Publikums zu tun. Das frühere Abo-Publikum, klassisch kulturell gebildet und an der Rekonstruktion von Kompositionen und dramatischen Texten interessiert, geht altersbedingt zurück. Erlebnis ist angesagt, sei es durch eigene Beteiligung in Kinder- Jugend-, oder Altenprojekten, sei es durch die Vorführung des Lebens anderer durch den Einsatz von „Alltagsexperten" wie etwa in den Inszenierungen von Rimini Protokoll. Einzelne Personenkreise haben mittlerweile ihre speziellen und anspruchsvollen Künstler. So gibt es feuilletonreife Behinderten-, Jugend und Altentheatergruppen. Diese Zielgruppenorientierung gibt es bei uns natürlich auch, sie steht jedoch nicht im Zentrum der Bemühungen. Die Idee der Theaterwerkstatt Bethel ist seit nun schon 25 Jahren: Miteinander Theater machen in Gruppen, die sich möglichst heterogen zusammensetzen. Das ist selten im Mainstream und für uns nicht selten ein Marketingproblem. Die Vorführung spezieller Menschen verkauft sich leichter und lässt sich leichter finanzieren, weil es für jede Zielgruppe ein Fach und einen Förderer gibt.

BK: War diese Heterogenität von Anfang an bewusst angestrebt, oder ist sie eher ein Zufallsprodukt?

MG: Als ich 1994 die Leitung übernahm waren sie schon alle da: Leute verschiedenen Alters und unterschiedlichen sozialen Hintergrunds. Ausgerechnet die sogenannten „Menschen mit Behinderungen" waren in der Betheler Einrichtung unterrepräsentiert. Auch ich hatte zu dieser Zeit wenig Erfahrungen in der Arbeit mit behinderten Mitwirkenden. Nach ersten überschaubaren Versuchen kam mir da die Anfrage des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes in Dortmund, eine Internationale Theaterwerkstatt von Gruppen behinderter Künstler aus fünf Ländern zu konzipieren gerade recht [„Babylon“]. In diesen zehn Tagen haben wir grundlegendes gelernt. Die Impulse aus dieser Begegnung nähren uns noch heute. Viele, die uns damals unterstützt haben sind noch heute wichtige Mitglieder des Netzwerkes der Theaterwerkstatt...

BK: ... und ich durfte dort zum ersten Mal das künstlerische Potential und die enorme zwischenmenschliche Bereicherung im Zusammentreffen von geistig behinderten und nichtbehinderten Musikern erleben, das ich seither in meiner Arbeit nicht mehr missen möchte.

MG: Du hast unsere Erfahrung mit „Babylon" damals in deinem Essay „10 Tage Leute“ trefflich beschrieben. Dazu gehörten die Veränderungen in unserem Selbstverständnis als Macher und die der Zuschreibungen an die anderen Mitwirkenden.
Auch du hast mittlerweile zahlreiche neue Erfahrungen mit unterschiedlichen Zielgruppen gemacht, vielerorts mit dem Büro für Konzertpädagogik, aber auch immer wieder in und mit der Theaterwerkstatt Bethel. Was hat sich seit Babylon in deiner Zusammenarbeit mit Darstellenden und Musikern getan?

BK: Was damals ein großes Abenteuer war, ist in den folgenden Jahren zu meinem Beruf, zum regelmäßigen Broterwerb geworden – mit all den Vor- und Nachteilen, die eine solche Professionalisierung mit sich bringt. Auf der einen Seite gibt es deutlich mehr Sicherheit, weniger Reibungsverluste, weniger Energieaufwand, es passieren selten gravierende Fehler. In unser beider Zusammenarbeit (die in den Anfangsjahren ja wahrlich nicht immer ganz spannungsfrei war) war das besonders schön zu spüren, als wir 2007 auf dem Kölner Rathausplatz die Eröffnungsperformance zum Evangelischen Kirchentag inszenierten [Unter den Steinen]. Ich habe unser Zusammenspiel dort innerhalb einer doch recht komplexen und potentiell fehleranfälligen Struktur, mit einer großen Zahl von Mitwirkenden und einem sehr knappen Zeitbudget, als geradezu schlafwandlerisch erlebt.
Aber wenn ich vom geringeren „Energieaufwand" spreche, kommt eben damit direkt auch die ganze Ambivalenz einer solchen Professionalisierung ins Spiel: Ein Projekt wie „Babylon" hat mich damals noch in regelrechte Euphorie versetzt, in ein großes Staunen über das gemeinsame Potential, und hat wochen- oder gar monatelang nachgewirkt. Mittlerweile genügt oft schon die Zugfahrt nach Hause, um innerlich von einem Projekt Abschied zu nehmen und das nächste vorzubereiten. Das hohe Maß an persönlichem Einsatz und Kraftanstrengung, das die damalige Arbeit prägte, hat sich im Lauf der Jahre abgeschliffen und ist zu großen Teilen durch Handwerk und Routine ersetzt worden. Natürlich ist eine solche Professionalisierung ein ganz normaler Prozess, der sich in tausenden von Berufsbiographien abspielt. Ich empfinde ihn in unserem speziellen Tätigkeitsbereich dennoch als bemerkenswert, weil hier ja dem „künstlerischen Eros", der „Inspiration", der Fähigkeit sich und andere zu begeistern gemeinhin eine sehr zentrale Bedeutung beigemessen wird. Die Wahrheit ist: Auch hier wird nur mit Wasser gekocht, auch hier gibt’s, wie überall, „Business as usual".
Ich vermute, das gilt für dich als Theaterleiter mindestens genauso wie für mich als „wandernden Musiker", der in der Regel nie länger als zwei, drei Monate mit ein- und derselben Gruppe befasst ist.

MG: Das Spannungsverhältnis zwischen der Einbindung in eine große Institution und der Entfaltung individueller schöpferischer Freiheit hat auf mich gleich zu Beginn meiner beruflichen Orientierung großen Reiz ausgeübt. Der künstlerische Freiraum, den Else Natalie Warns bei der Gründung der Theaterwerkstatt geschaffen hat, gab mir wichtige Startimpulse. Nach sieben Wanderjahren, in denen ich wie Du herumgereist bin, konnte ich mich auch nach der Rückkehr zu den Wurzeln frei entwickeln.
Das mittlerweile beträchtliche und sich ständig verändernde Netzwerk an erfahrenen Mitwirkenden, Kolleginnen und Kollegen und überregionalen Kooperationspartnern lässt nur selten ein Gefühl der Enge aufkommen.
Wir arbeiten in der Theaterwerkstatt Bethel seit jeher in einer höchst beweglichen Struktur. Es gibt nahezu keine festen Gruppen. Themenorientiert entstehen immer wieder neue Projekte, für die überlegt wird, welche fachliche und finanzielle Unterstützung sie benötigen. Jede und jeder am Spiel Interessierte entscheidet sich immer wieder neu für oder gegen eine Mitwirkung. Kontinuität zeigt sich eher im Rückblick. Manche Leute sind schon seit vielen Jahren immer wieder dabei und es hat sich durchaus so etwas wie ein eigener Stil gebildet.

BK: Und die Rechenschaftspflicht gegenüber einer großen Institution? Gibt es da keine inhaltlichen Einmischungen? Keine künstlerisch einengenden Zielvorgaben, zum Beispiel bezüglich der Reichweite eurer Arbeit?

MG: Ohne das soziale Potential und die verschiedenen Möglichkeiten der Finanzierung durch die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel würde es die Theaterwerkstatt nicht geben. Als Ort für kulturelle und soziale Experimente steht die Theaterwerkstatt in einer sehr fruchtbaren Wechselbeziehung zu den Entwicklungen Bethels. Die Institution gewährleistet hier einen Freiraum für Begegnungen jenseits alltäglicher Rollen und für Formen der Kommunikation, die weit über die Behinderungen im Alltag hinaus führen. Das Spiel mit aktuellen gesellschaftlichen Themen, Formen und Strukturen setzt Impulse, die sich neben der Ausstrahlung ans allgemeine Publikum auch unmittelbar auswirken: beim einzelnen Mitwirkenden und in konkreten Bezugssystemen, wie Familie, Freunde, Arbeit oder soziale Hilfen.

BK: Beneidenswert! Ich denke, von einer solchen Mischung aus Verwurzelung und Kontinuität auf der einen Seite, künstlerischer Freiheit und funktionierenden Ressourcen auf der anderen können die meisten von uns nur träumen. Schade und sehr ungerecht, dass diese Anbindung an eine große soziale Institution immer ein wenig auf Kosten der überregionalen öffentlichen Wahrnehmung geht – wenn Kai Büchner oder du die gleiche Arbeit an einem großen Theater machen würde(st) – wo sie ja bei weitem nicht diese Nachhaltigkeit erreichen würde – würden die Feuilletons viel stärker davon Notiz nehmen. Mir geht das ähnlich mit meiner Arbeit für Schulen oder Musikschulen, mit Projekten für Stadtteile oder Kirchengemeinden – die Fachpresse, die Kollegen horchen erst in dem Moment auf, wo ein großes Theater oder Orchester mit im Spiel ist. Alles andere wird letztendlich dann doch nicht so richtig ernst genommen.

MG: Glücklicherweise hat sich mit der Schärfung unseres Profils und unserer Außendarstellung einiges getan. Mit dem Begriff „Volxtheater" sind wir als Grenzgänger zwischen den Genres besser zu erkennen. Unsere Stärke liegt nun mal darin auf das Publikum zuzugehen. Mit Aufführungen im Rahmen von Kampagnen, Kongressen, Kirchentagen usw. stehen wir zwar häufig im Schatten der Veranstalter, erreichen jedoch weit mehr direkt am Thema interessierte Zuschauende als wenn wir in unserem Theater auf sie warten würden. Mit theatralen Interventionen in laufenden Vorträgen, der Inszenierung von Gottesdiensten oder dem Bespielen von Fußgängerzonen, Kaufhäusern etc. stellen wir sinnliche Verbindungen bauen wir Brücken gesellschaftlichen Themen und den Anwesenden her. Diese sind vielleicht aus einem ganz anderen Grund dort hingekommen. So erreichen wir viele, die von sich aus nie ins Theater gehen und bisher mit zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen nichts anzufangen wussten.

BK: Ja, diesen „Mitnahmeeffekt“ kenne ich aus meiner Arbeit auch.

MG: Du bezeichnest deine Kompositionen als „experimentelle Gebrauchsmusik“ und dich selbst als „Interaktionskünstler“. Wie bist du zu diesen Bezeichnungen gekommen?

BK: Man könnte diese Frage ja noch viel grundsätzlicher stellen – im Hinblick auf dein „Volxtheater“ genauso wie auf meine „esperimentelle Gebrauchsmusik“: Wozu überhaupt eine solche Selbstetikettierung? Warum muss man überhaupt eine Formel für das eigene Tun finden?

Mir fallen dazu zwei Antworten ein. Die erste, recht prosaische: Offenbar gehören wir zu einer Generation von "Künstlern", die diesen Begriff zwar vielleicht noch manchmal mit all seinen romantisierenden Untertönen für sich in Anspruch nehmen, in Wirklichkeit aber in viel stärkerem Maße "Kulturunternehmer" sind; regelmäßig ihre Anträge schreiben, Etats verwalten, Pressemitteilungen verschicken - und nebenbei dann ab und zu auch noch ein bisschen Theater oder Musik machen. Dazu gehört es eben auch, die eigene Person zur "Marke" zu machen oder das eigene Oeuvre in eine selbstgezimmerte Schublade zu stecken. Nicht aus innerer Notwendigkeit, sondern weil es sich nun mal auf diese Weise besser verkauft.

Wenn ich aber diesen Selbstverdacht einmal beiseite lasse, stoße ich auf eine zweite, versöhnlichere Antwort, die mir persönlich natürlich sehr viel sympathischer ist: Wir sind schon allein deswegen gezwungen, neue Etikette für unsere Arbeit zu erfinden, weil die herkömmlichen Genres und Berufsbezeichnungen nicht mehr passen. Dafür sitzen wir zu sehr zwischen den Stühlen. Es ist eben nicht einfach nur "Theaterregie" oder "Komponieren" oder "Kulturpädagogik", was wir da treiben. Sondern etwas, für das es vor zehn 15 Jahren überhaupt noch keinen Namen gab.
Zwischen den Stühlen aber kann man nur landen, wenn man sehr unterschiedliche Eindrücke empfangen hat und versucht, daraus neue Synthesen herzustellen. Von daher scheint die Nische, die ich da besetzte, sehr viel mit unseren Begegnungen und unserer Zusammenarbeit zu tun zu haben. Wäre ich damals nicht über dich mit dieser ganzen, mir bis dahin unbekannten Welt der Theaterpädagogik und der Soziokultur in Berührung gekommen, hätte ich wahrscheinlich eine ganz andere Richtung eingeschlagen

MG: Und welche Antwort ist nun die Richtige? Erschließen von Neuland oder reiner Kulturunternehmer-Pragmatismus?

BK: Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo zwischen diesen beiden Antworten. So oder so: in jedem Fall scheinen zwischen meiner "experimentellen Gebrauchsmusik" und deinem "Volxtheater" doch recht enge verwandtschaftliche Bande zu bestehen.

MG: Das ist in unserer Zusammenarbeit immer wieder zu spüren. Wenn wir nach einiger Zeit Abstand wieder zusammenkommen, neue Ideen zusammentragen und um das Konzept eines neuen Projektes ringen, sind sie oft für einen kurzen Moment wieder da: die alten Vorbehalte und Routinen der jeweils eigenen Herkunft. Dann beginnt aus der Distanz heraus erneut ein fruchtbares Zusammenspiel: eine Art konstruktive Konkurrenz. Dabei entwickeln wir schon im gegenseitigen Versuch, den eigenen Standpunkt zu erklären, neue Ideen. Sich untereinander immer wieder das Befremdende bewusst zu machen und es zu thematisieren, bedeutet ein großes Potential, sowohl für die künstlerische Arbeit als auch für den kreativen partnerschaftlichen Umgang miteinander. Diese Erfahrung hat uns selbst und unsere Art zu arbeiten geprägt. Vielen Dank für diesen langjährigen Dialog.

 


Weitere, im Text nicht genannte gemeinsame Projekte von Matthias Gräßlin und Bernhard König:

Vermisst:...(2009)
Ein Abend über das Verschwinden

Was bewegt die Stadt? (2009)
Gesänge - Gesichter – Geschichten aus Bielefeld

Metamorphosen (2005)
Musiktheater auf den Fährten des Ovid

... della lingua perfetta (2001/2002)
Ricercar für Stimmen und Streichquartett

Protest (2000)
Ein Musiktheaterworkshop für Jugendliche

Narrenschiff (2000)
Bühnenmusik für eine integrative Schiffskapelle

Lautwechsel (1998)
Begegnungen mit Schwerstbehinderten

Knirschen in Nachbars Garten (1998)
Solo für eine nichtbehinderte Sängerin