Plenarmusik

Tanztheater für den Mainzer Landtag
Landtag Rheinland-Pfalz mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur, Jugend, Familie und Frauen, des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Weiterbildung, der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur, dem Büro für Konzertpädagogik und den Mainzer Kammerspielen.
Uraufführung: 6. März 2001, Plenarsaal des Mainzer Landtages
AG Neue Musik Grünstadt; Choreographie: Nancy Seitz-McIntyre, musikalische Einstudierung: Silke Egeler-Wittmann

 

Ein experimentelles Musik- und Tanztheater im Landtag über den Landtag: Über parlamentarische Rituale, Politikerrhetorik und den permanenten Zwang zur theatralischen Selbstdarstellung.

Plenarmusik: Programmtext

Schüler inszenieren ein experimentelles Musiktheater im Parlament und über das Parlament. Dies ist die Grundidee eines - in seiner Art einmaligen - Projektes zur kulturellen Öffnung und Belebung des Landtages. Unter der Leitung des Kölner Komponisten Bernhard König, zusammen mit der Choreographin Nancy Seitz-McIntyre von den Mainzer Kammerspielen und der Musiklehrerin Silke Egeler-Wittmann vom Leininger-Gymnasium in Grünstadt (Pfalz) haben sich Schülerinnen und Schüler ein halbes Jahr lang künstlerisch mit parlamentarischen Ritualen auseinandergesetzt.

Im Projekt "Plenarmusik gehen zeitgenössische Musik und Tanztheater eine ungewöhnliche Symbiose mit politischer Bildung ein. Im Vorfeld haben die beteiligten Schüler eine Parlamentssitzung mit offenen Augen und Ohren verfolgt.
In einem zweiten Schritt entwickelten die Schüler unter professioneller Anleitung eine eigene Komposition. Das Ausgangsmaterial dieser Komposition waren nicht Geigenmelodien oder Schlagzeugrhythmen, sondern all das, was es im Verlauf einer Landtagssitzung zu hören gibt. Natürlich werden diese akustischen Fundstücke nicht im Original wiedergegeben, sondern musikalisch verfremdet - vom "Applaus-Quintett" bis zur "Debatten-Arie mit obligatem Zwischenrufer".
Im letzten Schritt wurde diese Komposition vor Ort, im Plenarsaal, choreographisch inszeniert. Auch hier waren die Schüler nicht nur Ausführende, sondern wurden unmittelbar am kreativen Prozess beteiligt. Ausgangspunkt der Choreographie waren Gesten und Bewegunsabläufe aus dem parlamentarischen Alltag, wie beispielsweise das Spiel mit ortstypischen Requisiten (Drehstühlen, Zeitungen, Aktenordnern, Telefonen, etc.). "Mündigkeit" statt "Hörigkeit".

Zur Idee von "Plenarmusik"

Normalerweise richtet sich die Auseinandersetzung mit der Institution "Parlament" eher an inhaltlichen Fragestellungen aus. Doch Politik besteht nicht nur aus Sachthemen. Ob ein Redner in der parlamentarischen Debatte überzeugt, ist auch eine Frage der Selbstinszenierung: Körpersprache, stimmliche Nuancen und persönliche Präsenz spielen eine wichtige Rolle - letztlich also die gleichen Ausdrucksmittel, die auch im Theater eingesetzt werden.
Dementsprechend ging es bei der künstlerischen Auseinandersetzung vor allem um die äußere Inszenierung von Politik und um den Blick hinter die Fassaden dieser Inszenierung. Vertraute politische Rituale wurden von den Schülern mit dem neugierigen Blick eines Ethnologen betrachtet, der die Gebräuche einer fremden Kultur erforscht. Und es wurden kritische und respektlose Fragen gestellt:

"Warum benutzen Politiker diese komplizierte Sprache?"
"Welche wahren Emotionen verbergen sich hinter dem scheinbar souveränen Auftreten eines Redners?".

Das Entscheidende an diesem Projekt: Die Schüler bleiben nicht in der Rolle von passiven Zuhörern, die über das Parlament und seine Bedeutung belehrt werden. Sondern sie werden selbst in einem kreativen Prozess tätig, machen den Mund auf:

Mündigkeit statt Hörigkeit!

Statt alle vier Jahre "seine Stimme abzugeben“" wird hier die Stimme mit all ihren Ausdrucksmitteln eingesetzt. Politik bleibt auf diese Weise keine trockene Materie, sondern wird zu einer höchst lebendigen Angelegenheit. Manchmal setzten sich die beteiligten Schüler einfühlsam und nachdenklich mit dem Politikerdasein auseinander, manchmal riefen die beobachteten Widersprüche bei ihnen Ernüchterung oder gar Empörung hervor. Aber eines waren sie ganz gewiss nicht: "Politikverdrossen".

Plenarmusik: Exemplarische Übungen

Chorisches Wiederkäuen (Vorübung zur Chorimprovisation)

Ein Zwischenrufer oder eine Zwischenruferin gibt ein kontroverses politisches „Reizwort“ vor (z.B. „Steuerreform“, „Rentenansprüche“, „Menschenrechts-verletzungen“, „Waldsterben“, „Solidaritätszuschlag“, „Einwanderungs-beschränkung“...). Das Wort wird von den Spielern auf die vier Gesangsarten der „Politiker-Typologie“ übertragen.

Die "Phraseologen" bilden kurze, nichtssagende Sätze, in denen möglichst oft das vorgegebene Wort vorkommt. Diese Sätze werden nicht gesprochen, sondern auf einer Tonhöhe als Sprechgesang gesungen.
(Beispiel: „Ja, meine Damen und Herren, die Steuerreform! Ach, kommen Sie mir doch nicht mit Steuerreform! Haben Sie Steuerreform gesagt? Ich sage ihnen: Steuerreform ist nicht Steuerreform! Und wo bleibt die Steuerreform?“).

Die "Bürokraten" singen ein Fragment (z.B. zwei oder drei Silben) auf zwei oder drei Tonhöhen in einem selbst erfundenen, individuellen „Maschinenrhythmus“.
(Beispiel: „re-forrr - re-forrr - re-forrr“)

Die "Ideologen" skandieren das Wort in einem durchgehenden „Marsch-rhythmus“. Bei Wörtern mit ungerader Silbenzahl wird der Zweier- bzw. Vierertakt durch Pausen aufgefüllt.
(Beispiel: „Steu - erre - form - Steu - erre - form“)

Die "Utopisten" singen einen langen Halteton und dehnen das vorgegebene Wort (seine Vokale und klingenden Konsonanten) in die Länge.
(Beispiel: „Steeeeuuuuuueeeeeeerreeeeefffffoooooormmmmmmmmmmm“)

Politikersteckbrief (Vorübung zur Rollenentwicklung)

Suche dir im Fernsehen, in den Nachrichten oder in der Zeitung einen Politiker oder eine Politikerin aus...

...der oder die dir besonders sympathisch erscheint.

...der oder die dir besonders unsympathisch erscheint.

...der oder die dir besonders interessant, widersprüchlich, geheimnisvoll oder typisch erscheint.

...der oder die dir besonders unauffällig, blass oder uninteressant erscheint.

Falls du mehrere Politiker(innen) gefunden hast, die dir besonders bemerkenswert erscheinen: Entscheide dich für einen oder zwei davon, mit denen du dich ausführlicher beschäftigen möchtest. Es geht darum, diese(n) Politiker genauer kennenzulernen. Dieses „Kennenlernen“ kann auf Fakten beruhen - oder auch auf deiner eigenen Phantasie!

Möglichkeit 1: Du versuchst, über einen echten Politiker möglichst viele persönliche und private Informationen zusammenzutragen (z.B. aus Zeitschriften, Fernsehberichten, Internet)

Möglichkeit 2: Du hast dir einen Politiker ausgesucht, über den du nichts oder nur sehr wenig weißt und erfindest dir zu diesem unbekannten Gesicht eine Persönlichkeit. Diese erfundene Persönlichkeit soll keine Karikatur sein, sondern möglichst realistisch und differenziert wirken.

Möglichkeit 3: Wer sich zwei verschiedene - vielleicht extrem gegensätzliche - Politiker ausgesucht hat, kann daraus ein „Zwitterwesen“ erfinden: eine Phantasiegestalt, die eine Mischung aus den beiden Vorbildern darstellt (z.B. „Joschka Merkel“ oder „Helmut Möllemann“).

Egal, welche der drei Möglichkeiten du auswählst: am Schluss solltest du möglichst viel über „deinen“ Politiker wissen oder selbst erfunden haben - zum Beispiel über seine Biographie, seinen Charakter, seine Hobbys, seine intimsten Geheimnisse, seinen beruflichen Werdegang oder über sein Verhältnis zu seinem Beruf.

 

Kommentare mitwirkender Schülerinnen und Schüler

«Ich denke, dass unser Stück „Plenarmusik“ ein großer Erfolg war, weil es - wie ich meine - ein sehr, sehr gutes Stück ist. Einige Politiker meinten zwar, wir hätten sehr viele Dinge negativ dargestellt, aber dem kann ich eigentlich nur wiedersprechen. Wir haben sowohl die „negativen“ als auch die „positiven“ Seiten der Politiker dargestellt, ihr Innenleben, ihre Ängste und Gefühle und die Zwänge und den Druck, denen sie eigentlich schutzlos ausgesetzt sind, gezeigt. Gerade deshalb hat mir das Projekt sehr viel gegeben.» (Vera Trinkel, 16 Jahre)

«Ich war außerordentlich beeindruckt von der Zeit, in der es möglich war, ein solches imposantes Stück auf die Beine zu stellen» (Gernot, 16 Jahre)

«Ich denke, dass das Projekt uns alle beeinflusst hat und wir alle nach dem Stück mehr an Politik interessiert sind als vorher. (...) Die Reaktion des Publikums und der Politiker auf das Stück war auch sehr beeindruckend, ich hätte nicht gedacht, dass so viele gute Kritiken zurückkommen und die Politiker uns nochmal zu sich einladen» (Laura Dierks, 16)

Pressestimmen

Menschen, die sich selbst für ungeheur wichtig und bedeutend halten, mögen es nicht gerne, wenn man ihnen den Spiegel vorhält. (...) Die 24 Jugendlichen im Alter von 13 bis 21 Jahren hatten sich gut vorbereitet - und ihre Vorbilder während des Besuchs einer „realen“ Parlamentssitzung gründlich studiert. (...) Ob sich die Damen und Herren Abgeordneten der Tatsache bewusst sind, dass ihre Parlaments-Arien stets nach dem gleichen Schema gebaut sind und den unterschiedlichsten Themen rondoartig immer wieder derselbe Refrain folgt? (...) Wie unter der Leitung von Silke Egeler-Wittmann die nur scheinbar zufällig einsetzenden Musikinstrumente und Sprechchöre, die der Kölner Bernhard König für die „Plenarmusik“ komponiert hatte, zur Geltung kamen, war eine Meisterleistung, die über der hinreißenden Optik fast ins Hintertreffen geriet - aber wirklich nur fast.

(Die Rheinpfalz, 8.3.2001)