2. Ökumenisches Kirchenmusikfestival Köln. 11. September 1999, Kirche St. Aposteln, Köln.
Mitwirkende u.a.: Klettenberger Madrigalchor, Kammerchor St. Rochus, Choralschola Bonn, Capella Piccola, Krahnenbaum Company Köln, Chorlabor Köln-Ost, Lina do Carmo (Tanz). Gesamtkonzept, Texte und Regie: Bernhard König
Eine fünfstündige Konzertnacht mit alter Chormusik und Uraufführungen Neuer Kammermusik; mit Tanz und inszenierten Lesungen.
Programmübersicht
In vielen Religionen und Kulturen, in Musik, Architektur und Wissenschaft spielt das „Mysterium der Zahl“ eine zentrale Rolle. Mit geistlicher Chormusik und zeitgenössischer Kammermusik, mit szenischen Lesungen und Tanzdarbietungen ließ die „Nacht der Heiligen Zahlen“ diese uralte Faszination an Zahlenspekulation und Zahlensymbolik wieder lebendig werden und machte sie sinnlich erfahrbar.
Das Programm war in neun Kapitel unterteilt, die jeweils einer bestimmten Zahl gewidmet waren und in denen unterschiedliche musikalische Schwerpunkte gesetzt wurden. In den Abschnitten „Drei“, „Sechs“ und „Acht“ stand die geistliche Chormusik im Vordergrund. Die Auswahl der Programmpunkte wurde in diesen Teilen von den jeweiligen Chören und ihren Leiterinnen oder Leitern gestaltet.
In den Abschnitten „Eins“, „Fünf“ und „Sieben“ brachte das Ensemble „Krahnenbaum Company Köln“ kammermusikalische Werke von Kölner Komponisten zur Uraufführung, die eigens für diese Veranstaltung entstanden sind.
Manche Programmelemente tauchten im Verlauf dieses Abends immer wieder auf - zum Beispiel Bachs „Kunst der Fuge“, interpretiert von verschiedenen Kölner Organisten und choreographisch umgesetzt von der Tänzerin Lina do Carmo.
Die wichtigsten Programmpunkte im Überblick:
Eins
Kunst der Fuge: Contrapunctus I (Christian Schmitz)
Dominik Sack: „Regentag“ für sieben Instrumente (UA)
Grußwort des Oberbürgermeisters Norbert Burger
Zwei
Kunst der Fuge: Contrapunctus V (Ulrich Cyganek)
Tanzperformance (Lina do Carmo, Chorlabor Köln-Ost)
Drei
Geistliche Chormusik von Vulpius, Bach, Schütz, Lonquich
(Klettenberger Madrigalchor / Johanneskantorei)
Vier
Christoph Maria Wagner: ZOOM für Flöte solo
Kunst der Fuge: Contrapunctus IV (Jürgen Kursawa)
Fünf
hans w. koch: „katalogos“ für Streichquintett (UA)
Sechs
Kunst der Fuge: Contrapunctus XI (Torsten Wille)
Geistliche Chormusik von Leonin und Perotin
(Kammerchor St. Rochus, Choralschola Bonn)
Sieben
Tanzperformance (Lina do Carmo, Chorlabor Köln-Ost)
Johannes Fritsch: Streichquintett 1999 (UA)
Acht
Kunst der Fuge: Improvisation von Peter Bares
Geistliche Chormusik von J. L. Bach, Purcell, Schütz
(Capella Piccola)
Neunzehnhundertneunundneunzig
Kunst der Fuge: Contrapunctus XIX (Johannes Quack)
Inszenierte Lesungen
Verbindender roter Faden der „Nacht der Heiligen Zahlen“ war ein Zyklus von inszenierten Lesungen mit Musik, Predigten und Textcollagen von Bernhard König.
Ein Teil der Textlesungen war musikalisch und choreographisch inszeniert. Die Tänze hatte Lina do Carmo im Dialog mit den musikalischen Akteuren entwickelt. Die Musik für verschiedene Instrumente (Krahnenbaum Company Köln) und einen sprechenden, singenden und zählenden Chor (Chorlabor Köln-Ost) war zwischen Komposition und Improvisation angesiedelt. Insbesondere die Chorpartie hatte viele improvisatorische Freiräume und wurde in einem gemeinsamen dialogischen Prozess unter kreativer Beteiligung des Chores entwickelt.
Die Textcollagen basierten auf literarischen Fundstücken aus aller Herr(inn)en Ländern und aus den verschiedensten Geschichtsepochen. Ein großer Teil der verwendeten Texte stammte von mittelalterlichen oder barocken Gelehrten wie Athanasius Kircher, Andreas Werckmeister oder Agrippa von Nettesheim: Von Universalwissenschaftlern, deren Weltbild unter anderem auch das Komponieren Johann Sebastian Bachs und seiner Zeitgenossen maßgeblich geprägt hat. Daneben fanden sich aber auch kurze Textpassagen aus jüdischer, islamischer oder buddhistischer Überlieferung, Sprichwörter und Abzählreime, Ausschnitte aus naturwissenschaftlichen Texten und aus den Schöpfungsberichten verschiedener Völker.
An manchen Stellen ließ diese Textauswahl erahnen, mit welcher Faszination unsere Vorfahren dem „Mysterium der Zahl“ gegenübergestanden haben. Mitunter verdeutlichte sie aber auch, welche bizarren Absurditäten und abstrusen Gedankenwucherungen die theologische und wissenschaftliche Spekulation vergangener Jahrhunderte aus heutiger Sicht hervorgebracht hat und wie fremd uns das Denken geworden ist, das „unserer“ Kirchenmusik zugrunde liegt.
Wenn einige der vorgetragenen Texte im Programmheft als „Predigt“ betitelt waren, so darf diese Überschrift nicht im Sinne eines katholischen oder protestantischen Gottesdienstes verstanden werden. Weder stammten diese Texte aus der Feder eines Theologen, noch legen sie die Bibel aus. Sie handelten von Zahlen. Ein religiöses Thema ist das allemal - und zugleich ein „ökumenisches“ in einem sehr weitgefassten Sinn. Es steht für eine Jahrtausende alte kirchliche Tradition, die vielen treuen Kirchgängern unbekannt sein dürfte. Und es steht zugleich für eine Art von verborgener „Rest-Religiosität“, die sich (mitunter unwissentlich) tief im Denken manches bekennenden Atheisten verankert hat.
Beispiele aus Textbuch und Programmheft
Predigt über die Eins
SPRECHER:
Gesetzt den Fall, ein namhaftes Meinungsforschungsinstitut hätte 5000 Bundesbürger systematisch befragt, woran sie wirklich glauben. 24,3% der Befragten hätten angegeben, sie glaubten an Gott, 0,7 an die Weltrevolution, 18,5 an die Sinnlosigkeit aller Existenz, 1,3% an das Jüngste Gericht - und so fort.
Und weiter angenommen, Sie würden in der Zeitung von dieser Umfrage lesen. Als aufmerksame Zeitungsleserin oder aufmerksamer Leser würden Sie es vermutlich als statistisch erwiesen ansehen, dass es in unserer Kultur keine allgemein verbindlichen Glaubensinhalte mehr gibt. Und doch hätten Sie, in genau diesem Moment, das exakte Gegenteil unter Beweis gestellt. Denn an eines glauben wir alle: An Zahlen.
Unerschütterlich vertrauen wir auf die Aussagekraft von Meinungsumfragen und Einschaltquoten, Börsenkursen und Bruttolöhnen. Mit Glaube im religiösen Sinn scheint das auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben. Doch die vermeintliche Nüchternheit unseres Umgangs mit Zahlen täuscht. Spätestens dort, wo es um Rekorde und Superlative geht, offenbart sich unser magisches Verhältnis zur Zahl: Zehntelsekunden im Sport, Millionen von Zuschauern in der Unterhaltungsindustrie, Milliarden von Dollars in der Wirtschaft - Zahlen in unvorstellbaren Größenordnungen, die über Sinn oder Sinnlosigkeit, gut oder schlecht, über Existenz oder Untergang entscheiden.
Die Faszination an der Zahl verbindet uns mit unseren religiösen und kulturellen Wuzeln. Das Vertrauen in die Zahl als sinnstiftendes und ordnendes Prinzip weist auf uralte Traditionen zurück, die weit über die Grenzen einzelner Konfessionen oder Religionen hinausgehen.
Einige symbolische Zahlenbedeutungen sind in so vielen Kulturen anzutreffen, dass man sie geradezu als universal bezeichnen kann. Unsere christliche Trinität etwa hat ihr Gegenüber in den alten sumerischen, babylonischen, indischen und ägyptischen Religionen, die allesamt dreigestaltige Gottheiten kannten.
Auch die Zahl Eins besitzt eine solche archaische Bedeutung. Sie steht in allen Religionen für den Ursprung, das Schöpfungsprinzip, das unteilbare Ganze. Und noch heute steht die Eins häufig auch für eine Hoffnung: Für das Wiedererlangen einer verlorengegangenen Einheit. „One world“ - „Alle Menschen sind gleich“ - „Eine große Familie“ - „Wir sind ein Volk“.
Aber ist das alles nicht ein bisschen einfältig?
Es darf gezweifelt werden!
Wettstreit der Heiligen Zahlen (Auszug)
SPRECHER:
Nichts ist vollkommener als die Eins:
Ein Gott
Ein Glaube
Eine Kirche!
(Von hier an beide Sprecher auftrumpfend und mit stetig wachsender Agressivität):
SPRECHERIN (winkt verächtlich ab):
Vier Evangelien!
Vier Tugenden!
Vier Elemente!
Vier Jahreszeiten!
Vier Himmelsrichtungen!
Vier Paradiesströme!
Vier apokalyptische Reiter!
Vier Menschenalter!
SPRECHER:
Sieben Menschenalter!
Sieben Planeten!
Sieben freie Künste!
Sieben fette Kühe!
Sieben magere Kühe!
Sieben Himmelskühe!
Sieben Worte am Kreuz!
Sieben Freuden Marias!
Sieben Gaben des Heiligen Geistes!
Sieben Weltwunder!
Sieben Zwerge
hinter den sieben Bergen!
Wer will guten Kuchen backen,
der muss haben ...
SPRECHERIN :
Fünf Finger!
Fünf Sinne!
Fünf Tugenden!
Fünf Laster!
Fünf Kräuter!
Fünf Bücher!
Fünf Brotkügelchen!
Fünf Körperteile!
(...)
Predigt über die Sechs
SPRECHER:
Haben Sie es gehört? Haben Sie gerade gehört, dass das erste Fugenthema aus sechs plus acht Tönen besteht? Und das zweite Fugenthema umgekehrt aus acht plus sechs Tönen? Sechs: Die Zahl der Vollkommenheit. Und acht: Die Zahl der Ewigkeit?!
Oder haben Sie gehört, wie die drei Themen dieser Fuge am Ende eine Art musikalische Trinität bilden?
Höchstwahrscheinlich haben Sie all das nicht gehört, und Sie brauchen sich deswegen nicht zu schämen. Denn falls diese Zahlenspiele von Bach tatsächlich beabsichtigt sein sollten, dann waren sie gewiss nicht für uns bestimmt: für uns Hörerinnen und Hörer.
Und wofür dann?
Mit großer Selbstverständlichkeit haben die Komponisten, Architekten und Künstler der Barockzeit ihrem Werk die Gesetze und Bedeutungen der Zahl zugrundegelegt. Was hätten sie auch anderes tun sollen? Gott selbst hat seine Schöpfung nach diesen Gesetzen gestaltet, ohne sich irgendwelche Freiheiten zu erlauben. So jedenfalls sieht es der Heilige Augustinus.
Die „Sechs“ beispielsweise gilt als die Zahl der Vollkommenheit. Augustinus zufolge hat sie diese Bedeutung nicht etwa dadurch erhalten, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschuf. Nein, Gott konnte gar nicht anders, als die Welt am sechsten Tag zu vollenden - eben weil die Sechs eine vollkommene Zahl ist. Vollkommen ist sie deshalb, weil sie die Summe und zugleich das Produkt der ersten drei Zahlen ist. Eins plus zwei plus drei ergibt sechs. Und eins mal zwei mal drei ebenfalls sechs.
Vollkommenheit war auch der Maßstab für einen Komponisten wie Bach. Wenn dieser über seine Partituren schrieb „Soli deo gloria“, dann war damit auch ein Qualitätsanspruch formuliert: Das Kunstvollste ist zum Lobe Gottes gerade gut genug.
Bachs späte Kompositionen wirken nicht wie ein frommer Appell oder ein Gebet; sie scheinen nicht in erster Linie an einen gnädigen, richtenden oder vergebenden Gott gerichtet zu sein, sondern an einen musikhörenden: an einen Gott, der aufmerksam, mit gespitzten Ohren auf seinem Thron sitzt und sich an Spiegelkanons und Trippelfugen ergötzt.
Ein solches Gegenüber zu haben - das kann einen Komponisten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich nur mit aufrichtigem Neid erfüllen. Auch die Komponisten der Gegenwart arbeiten mit Zahlen. Manche ihre Werke sind vollgestopft mit Mathematik. Doch misst man sie an der theologischen und kosmologischen Bedeutsamkeit zu Bachs Zeiten, dann wirken die Zahlen in der Neuen Musik sinnlos. Es scheint, als seien sie nicht mehr als eine private Spielerei. Weil es kein geschlossenes Weltbild mehr gibt, das ihnen Sinn verleihen würde. Niemand weiß, ob Gott Zwölftonreihen mag.
Dennoch: Auch heute noch zeichnet sich das Verhältnis von Komponisten zur Zahl häufig durch einen geradezu religiösen Ernst aus. Ob Zahlen einfach nur Zahlen sind oder ob sie eine tiefere Bedeutung haben; ob man sich streng an selbstgesetzte Regeln hält oder ob man sie übertritt - all dies sind nach wie vor Glaubensfragen.
So vielgestaltig der Umgang mit Zahlen in der Musik auch sein kann - es scheint, als läge ihm auch heute noch (wie zu Bachs Zeiten) eine religiöse, eine existentielle Frage zugrunde.
Gewiss lautet diese Frage für die Mehrzahl der Komponisten heute nicht mehr „Wie bilde ich die Vollkommenheit der Schöpfung ab, um meinen Herrn zu loben und zu preisen?“.
Aber vielleicht könnte sie folgendermaßen lauten: „Wie kann Sinnlosigkeit bewältigt werden?“
Von allerley curiosen Tonleitern und Orgeln (Über die Sieben)
Dass wir Musiker mit der siebenstufigen Tonleiter über ein theoretisch wohlfundiertes Ordnungssystem verfügen, scheint die Vertreter anderer Geistesdisziplinen seit jeher mit Neid erfüllt zu haben. Wie sonst wäre die Zwanghaftigkeit zu erklären, mit der Jahrhunderte lang von den verschiedensten Gelehrten alles mögliche und unmögliche zu siebenstufigen Skalen geordnet wurde?
So beschrieb Georg Philipp Telemann 1739 die Erfindung einer „Augenorgel“. Jeder Ton dieser Orgel war über „seidene Schnüre oder eiserne Dräter“ mit farbigen Kästchen, Schildern oder bemalten Laternen verbunden, „also daß, indem man einen Klang höret, zugleich eine Farbe gesehen wird“.
Ein knappes Jahrhundert später versuchte ein französischer Gelehrter eine Art musikalisches Esperanto zu erfinden: eine weltweit verständliche Sprache, die statt auf Buchstaben und Silben auf den sieben Tönen der Tonleiter beruhte.
Und 1827 erfand ein englischer Parfümhersteller ein „vollständiges Geruchstonleitersystem, mit Hilfe dessen man Harmonien wie Dissonanzen herauslesen und vorhersagen kann“. Der findige Parfümeur hätte sich vermutlich nicht träumen lassen, dass es seine Geruchstonleiter eines Tages zu literarischen Ehren bringen sollte. In Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ wird eine Kinoaufführung von einem Virtuosen an der „Duftorgel“ begleitet. Nach „waghalsigen Modulationen durch den Quintenzirkel der Gewürze und eine langsame Rückkehr über Sandelholz, Kamper, Zedernöl und frischgemähtes Heu“ endet das Stück versöhnlich: „Als die letzte Thymianwolke verzogen war, wurde applaudiert; die Lichter gingen an.“
Aufruf, das rechte Jahr zu feiern
SPRECHERIN:
Dass Zahlen eine Bedeutung haben - nicht bloß im Sinne einer augenzwinkernden Spielerei wie beim sprichwörtlichen Freitag dem 13., sondern tatsächlich im Sinne einer verbindlichen und allgemein akzeptierten Wahrheit - dass Zahlen eine solche Bedeutung haben, dass können wir rational denkenden Menschen uns heute kaum noch vorstellen.
Oder vielleicht doch?
Nicht etwa von politischen Hoffnungen oder ökologischen Ängsten wird unsere Gesellschaft gegenwärtig in Atem gehalten und elektrisiert - sondern von einer Zahl. Die abergläubische Hysterie, die durch diese eine Zahl ausgelöst wird, übertrifft sogar alles, was die Welt bisher an irrationalem Zahlenglauben erlebt hat. Ihre Symptome reichen vom zwanghaften Feiern, Pilgern oder Champagner-Saufen bis zur apokalyptischen Computer-Endzeit-Phobie.
Auslöser dieser kollektiven Psychose ist nicht etwa der Geburtstag eines Religionsstifters - dessen Datierung wird von der theologischen Wissenschaft ohnehin in Frage gestellt. Auslöser unseres Zweitausend-Wahns ist einzig und allein die Symbolik einer Zahl, die in den alten Traktaten - zu Recht - nie eine besondere Rolle gespielt hat: Die Null.
Eine Zwei und drei Nullen: Das ist der traurige Überrest von all den wunderbar wuchernden biblischen und kabbalistischen Deutungen; von den magischen Spekulationen und mystischen Bildern, die sich jahrhundertelang geheimnisvoll um die Zahlen rankten.
Die Null ist eine doppelt heuchlerische Zahl. Sie tut so, als wäre sie nichts, aber diese Bescheidenheit ist gespielt. In Wahrheit ist die Null maßlos und überheblich. Wo sie auftaucht, wird das ehrliche Zählen durch protzige Quantensprünge ersetzt. Die Null ist ein Hilfsmittel, um Zahlen zu konstruieren, die jede Vorstellungskraft überschreiten: Zehntausen. Eine Million. Vier Billiarden.
Heuchlerisch ist die Null noch aus einem weiteren Grund: Sie gaukelt nicht nur Größe vor, sondern auch Vollkommenheit, Vollendung: Eine runde Summe. Eine ausgeglichene Bilanz. Doch wo von „hundert Prozent“, „zehntausend Arbeistplätzen“ oder „drei Milliarden Dollar“ die Rede ist, da wurde fast immer auf- oder abgerundet. Meistens „auf-“. Fast alle Nullen sind Lügen.
Auch die drei Nullen in „Zweitausend“ sind Lügen. Eine unvollkommene, unfertige, fragwürdige Gesellschaft benutzt sie, um sich vorzutäuschen, hier vollendete sich etwas. Oder hier begänne gar etwas Neues. Als sei man sei bereit für einen Einschnitt, für ein Innehalten, für eine Neuorientierung.
Wäre er ehrlich, der Wunsch nach kollektiver Besinnung und Selbstreflektion, dann hätte er sich die diesjährige Jahreszahl zu seinem Symbol gemacht. 1999 - eine schillernde, eine herrlich vieldeutige Zahl. Zunächst einmal ist 1999 eine Primzahl. Um genau zu sein: die dreihundertdritte Primzahl unseres Zahlensystems. Eine Zahl also, die ganz für sich selbst steht, die sich durch nichts teilen lässt. Doch trotz ihrer Unteilbarkeit klingen in dieser Zahl deutlich die „Neun“ und die „Elf“ an.
Diese beiden Zahlen aber, Neun und Elf, waren im Mittelalter und in der Barockzeit vor allem Symbole der Unvollkommenheit. (Sollte dies vielleicht der Grund sein, dass so viele Heiratswillige sich magisch vom 9.9.1999 angezogen fühlten?). Die Neun stand für das Unvollendete, Unfertige. Und die Elf für das Überschreiten der zehn Gebote. Gerade die Kölner Jecken wissen ja seit jeher den Charme dieser sündigen Zahl zu schätzen.
Also dann: tun wir’s ihnen nach und feiern wir unsere Unvollkommenheit! 110 Tage haben wir noch!
Pressestimme
(...) Allein die über fünfstündige „Nacht der heiligen Zahlen“, 111 Tage vor dem dritten Jahrtausend und genau zum jüdischen Neujahr 5760, lockte rund 170 Mitwirkende von Bonn bis Neuss. Das Programm mit Musik, Tanz und Lesungen, neun Kapitel über die Zahlen eins bis neun, hat der Kagel-Schüler Bernhard König entworfen. Es führte zu Wurzeln der Kulturen, mit alten Traktaten über Ordnung und Sinn der Zahlen, auch mit kuriosen Fundstücken. Dabei regte der Symbolwert der jeweiligen Zahl variable Verläufe an. Die Eins stand für Unteilbarkeit, die Zwei für Zwist und Zweifel, die Sechs für Vollkommenheit. (...)