Im Auftrag von WDR5: LILIPUZ - Radio für Kinder. Redaktion: Stephanie Weber.
In den Jahren 2006 und 2007 stellte Bernhard König den Radiohörern von Lilipuz in unregelmäßigen Abständen Klassiker der Neuen Musik vor, indem er, während die Musik läuft, das musikalische Geschehen wie ein Live-Reporter kommentiert.
Moderationstext zu: John Cage, "Imaginary Landscape"
(Sendung vom 20.4.2006 )
Ganz schön verrückte Sachen hat sich dieser Herr Cage ausgedacht – zum Beispiel dies hier.
Das klingt jetzt erst mal so, wie wenn man zu mehreren auf Kochtöpfen und Pfannen und Schüsseln herumtrommelt. So eine Art Küchenmusik.
Oder wie manchmal am Anfang von der Musikstunde, wenn die Kiste mit den Orff-Instrumenten ausgepackt wird und alle durcheinanderspielen.
Aber jetzt kommt was anderes. Das passt nicht zur Küche. Das hört sich eher an, wie ne Feuerwehrsirene.
Probealarm.
Das sind künstliche Klänge. Elektronische Klänge. Für uns ist das nichts soo besonderes, wir kennen elektronische Geräusche zum Beispiel vom Handy oder wenn der Wecker tutet oder viele Spielsachen, die machen auch elektronische Geräusche. Aber zu der Zeit, als Herr Cage diese Musik erfunden hat, da war das etwas ganz besonderes.
Aber irgendwie, so richtig gut passt das ja nicht zusammen, das Getrommel und die Sirenen.
Was das Ganze soll, das kann der Name von diesem Musikstück ein bisschen erklären. Auf deutsch übersetzt heißt das so etwas wie „ausgedachte Landschaft“ oder „Phantasielandschaft“.
Bei einer richtigen Landschaft, da gibt es ja Vordergrund und Hintergrund. Sachen, die ganz nah sind, und andere, die ganz weit weg sind, und eigentlich haben die gar nichts miteinander zu tun. Außer eben, dass man die halt zufällig gerade im gleichen Moment sieht.
So ähnlich ist das hier auch, nur ist das hier halt eine Musiklandschaft. Keine zum Gucken.
Zum Beispiel im Vordergrund, da höre ich jetzt gerade so zwei Trommeln. Die lassen sich von dem ganzen anderen Durcheinander gar nicht stören, und spielen einfach so ihren Rhythmus vor sich hin. [Rhythmus mitsingen]
So, jetzt haben sie aufgehört.
Ja, und wie man bei einer richtigen Landschaft selbst entscheiden kann, wo man hinguckt, ob man sich den Grashalm im Vordergrund anguckt, oder das Gebirge im Hintergrund, so ist hier bei dieser Musiklandschaft auch.
Könnt ihr ja mal ausprobieren, hört euch einfach mal was raus.
Also ich glaube, mir haben am besten die beiden Trommeln gefallen.
Moderationstext zu: Luigi Nono, "Hay que caminar, sonando"
(Sendung vom 18.5.2006)
Als ich in der Schule war, das ist natürlich schon ganz schön lange her, da gab es in meiner Klasse immer ein paar Schüler, die ziemlich mächtig waren. Zum Beispiel, weil sie einfach ein bisschen stärker waren als die anderen. Oder sich teurere Kleider leisten konnten.
Und dann gab es welche, die hatten ganz wenig Macht. Die waren immer ein bisschen langsamer oder schwächer oder unbeliebter oder schlechter angezogen als die anderen.
Zum Beispiel wurden die, wenn wir uns im Sportunterricht selbst zwei Fußballmannschaften wählen durften, immer als allerletzte aufgerufen.
Die Musik, die ihr hier im Hintergrund hört, die ist ganz unmächtig. Wahrscheinlich habt ihr sie die meiste Zeit gar nicht richtig gehört, weil ich ja immerzu geredet habe. Und weil das eine Musik ist, die sich halt einfach nicht zur Wehr setzt, wenn einer in sie reinredet.
Es gibt ja viele Musikstücke, bei denen ist das ganz anders. Mächtige Musik. Die einem befiehlt, wie man sich bewegen soll. Oder wie man sich fühlt. Die macht dann zum Beispiel "ra-damm! ra-damm! ra-damm!", oder "guff-tschik, guff-guff-tschik, gu-guff-tschik!" - und schon bewegt man sich im gleichen Takt. Da würde das ganz schön stören, wenn ich da die ganze Zeit reinreden würde.
Aber Luigi Nono, der Komponist, der sich das hier ausgedacht hat, der wollte anscheinend keine mächtige Musik, bei der die Leute hinterher auf den Bänken stehen und jubeln und mittanzen. Sondern eine, die ganz leise ist. Ganz machtlos. Und ein bisschen komisch. Ein bisschen unbeliebt.
Ich glaube, so eine Musik würde keiner freiwillig in seine Fußballmannschaft wählen.
Und warum denkt sich jemand so was aus?
Naja, bei mir früher war das so, bei manchen von diesen unbeliebten Mitschülern, wenn ich die dann ein bisschen besser kennen gelernt hatte, dann hab ich gemerkt, dass die eigentlich doch ganz nett waren. Dass die doch nicht nur komisch oder hässlich waren. Sondern auf ihre Art schön. Ich musste halt nur ein bisschen länger danach suchen. Und so könnte das ja mit dieser Musik hier auch sein.
Moderationstext zu: Mauricio Kagel, "Mare Nostrum"
(Sendung vom 21.6. 2006)
(Hörbeispiel Mozart)
Alla turca heißt dieses Klavierstück von Mozart. Unter Klavierspielern ist das ziemlich bekannt, wer so 5,6 Jahre fleißig geübt hat, der kann das dann irgendwann auf dem Klavier spielen.
Mozart hat versucht, dieses Stück so zu schreiben, dass es türkisch klingt. Wie türkische Musik.
Ja, und wer richtige türkische Musik kennt, der wird jetzt wahrscheinlich laut lachen, denn die klingt natürlich ganz anders. Ihr könnt euch ja mal welche von euren türkischen Mitschülern vorspielen lassen. Was hat dieser Mozart sich da eigentlich gedacht?
(Hörbeispiel Kagel, läuft im Hintergrund weiter)
So, dass hier ist jetzt natürlich auch keine richtige türkische Musik. Wer genau hinhört, der merkt vielleicht, dass das hier ein ganz bisschen so ähnlich klingt, wie eben gerade das Klavierstück von Mozart. Nur viel, viel schräger.
Mauricio Kagel, der Komponist, der sich das hier ausgedacht hat, kannte natürlich auch das „Alla turca“ von Mozart. Und der hat sich wahrscheinlich auch gedacht, „also tut mir leid, Herr Mozart, so klingt ja nun wirklich keine türkische Musik“.
Jetzt hätte er natürlich hingehen können, und das Mozartstück so verändern können, dass es richtig türkisch klingt. Mit echten türkischen Instrumenten.
Hat er aber nicht. Stattdessen hat er eine Musik komponiert, die so richtig schön falsch klingt. Als ob die Musiker sich ständig verspielen.
Wenn ihr mal auf das Schlagzeug hört, dann merkt ihr zum Beispiel, dass das immer an der falschen Stelle spielt. Aber die Musiker machen das nicht, weil sie's nicht richtig können. Sondern das klingt extra so falsch.
Zum Beispiel klingt das vielleicht so falsch, wie damals, vor über 200 Jahren, für Mozart die richtige türkische Musik geklungen hat. Und deswegen hat er sie dann damals so stark verändert, weil ihm sonst seine Zuhörer weggelaufen wären. Denn die kannten ja keine türkische Musik und wussten nicht, wie schön die in Wirklichkeit klingt. Wenn man sie gut kennt.
Oder vielleicht klingt diese Musik hier auch so falsch, wie Mozarts Klavierstück damals für einen Türken geklungen hätte. Denn damals gab’s ja kein Radio und keine CD, und deshalb hat Mozarts Musik für jemanden aus der Türkei vielleicht ja auch ganz, ganz komisch geklungen.
Dieses Musikstück hier handelt also davon, dass Musik manchmal so fremd ist, dass man sie einfach nicht richtig verstehen kann. Es gibt manche Leute, die sagen, Musik wäre etwas, das jeder versteht. Auf der ganzen Welt. Aber Mauricio Kagel sagt mit diesem Stück hier: Nö. Stimmt gar nicht.
Das hört sich jetzt alles sehr ernst und schwierig an, mit dem Verstehen und Nichtverstehen – aber manchmal ist es ja auch ein bisschen lustig, wenn man sich falsch versteht. Und ich glaube, das kann man am Ende von Mauricio Kagels Stück ganz gut hören...
Moderationstext zu: Salvator Scarrino, "Volubile"
(Sendung vom 30.11.2006)
(1) Habt ihr euch erschreckt? Ganz schön laut war das gerade. Und ganz schön plötzlich. Und den anschließenden Schreck, den kann man in der Musik auch hören.
(2) Immer wenn’s laut wird, kommt danach so ein aufgeregtes Durcheinandergeflatter – wie in einem Hühnerstall oder bei einem Taubenschwarm ,wenn es irgendwo in der Näheganz laut geknallt hat.
Aber weil wir nicht einem echten Hühnerstall sind, und nicht in der echten Natur, kann sich die Reihenfolge auch ändern.
(3) Jetzt weiß man gar nicht mehr, wer hier wen erschreckt. Wer hier auf wen reagiert. Ein ziemlich durchgeknallter Hühnerstall.
(4) Jetzt bitte noch mal ganz ordentlich: Erst der große Knall – und dann der Schreck...
... der sich allmählich wieder beruhigt. Bis es irgendwann wieder ganz leise ist.
(5) Nochmal: Knall – und aufgeregtes Flattern.
(6) Wenn man das so hört, dieses ganze Geflatter und Geschrecke, dann kommt man erst mal nicht auf die Idee, dass das eine einzige Geige ist, die hier spielt.
(7) Denn normalerweise kann man sich ja nicht über sich selbst erschrecken. Wenn ich mich hinter der Tür verstecke und „buh“ mache, dann zucke ich ja anschließend nicht deswegen zusammen.
Aber diese Geige hier, die tut so, als könnte sie sich mit sich selbst unterhalten. Als könnte sie sich selbst einen Schreck einjagen.
(8) Carolin Widmann heißt die Geigerin, die ihr hier hört, und das Stück hat den Titel „volubile“. Das ist italienisch und heißt auf deutsch: „unbeständig“. „wechselhaft“. „flatterhaft“.
Hätte man sich ja fast denken können.
(9) Irgendwie will sich dieser Hühnerstall anscheinend gar nicht mehr einkriegen. Das, was am Anfang noch ganz logisch klang – erst der Knall, dann der Schreck – wird immer mehr durcheinandergewirbelt.
(10) Aber am Schluss ist dann doch noch mal Platz für etwas ganz Kleines, Feines.
(11) Da verabschiedet sich dieses aufgeregte Stück nämlich – mit einem ganz zarten Kükengezwitscher.
Moderationstext zu: J. Harvey, "Mortuos Plango, vivos voco"
(Sendung vom 5.4.2007)
(1) Das habt ihr alle schon mal gehört.
(2) Wenn viele Glocken durcheinanderläuten, dann schlägt jede einzelne davon in ihre eigenen Tempo. Die großen, schweren Glocken bewegen sich langsamer als die kleinen, hellklingenden.
(3) Aber wie klingt es, wenn man – wie mit einem Mikroskop – in den Klang der Glocken hineinhorcht?
(4)Und wie würde es klingen, wenn diese Klänge, die man da unter dem Ohren-Mikroskop hören würde, plötzlich lebendig würden?
(5) Was passiert, wenn man so einen lebendig gewordenen Ohrenmikroskopklang in lauter kleine Stückchen zerschneidet? Oder wenn man sich all das Lebendige, was darin herumkrabbelt und –wimmelt, ganz schnell in Zeitraffer anhört?
(6) Das alles habt ihr bestimmt noch nie gehört.
(7) Eines kann man unter dem Ohrenmikroskop ziemlich gut hören: In einem normalen Glockenklang sind ganz viele andere, höhere Töne versteckt.
(8) Einen haben diese versteckten Töne anscheinend ganz besonders gereizt: Herrn Harvey. So heißt der Komponist, der die Glockenklänge hier unter’s Ohrenmikroskop gelegt hat.
(9) Ich weiß nicht, was Herr Harvey sich vorstellt, wenn er sein eigenes Stück hört. Aber vor vielen hundert Jahren haben sich die Menschen vorgestellt, dass diese hohen, versteckten Töne, die man normalerweise gar nicht richtig hören kann, genauso klingen, wie die Musik des Weltalls. Oder wie der Gesang der Engel.
(10) Heißt das vielleicht, wenn man sich so eine Glocke mit dem Ohrenmikroskop anhört, dass man dann ganz viele kleine Engel darin herumschwirren hört?
(11) Oder sind es doch eher Sternennebel und Asteroiden, die in solche einem Glockenklang versteckt sind?